Unbeeindruckt singt die Mönchsgrasmücke

Eine Anstiftung zum Optimismus

"Wie können Sie in DIESER Welt nur optimistisch sein?", lautet eine der meistgestellten Fragen unserer Leser. Zerknirscht und schuldbewusst fragen wir uns selbst: Wie konnten wir überhaupt auf diese schiefe Bahn geraten?

Es gibt beispielsweise geborene oder unverbesserliche Optimisten, die haben mildernde Umstände. Auch die vielen Management-Gurus mit ihren Think-positiv-Botschaften können nicht voll für ihr Tun verantwortlich gemacht werden, weil es ja meist Amerikaner sind. Nein zu denen gehören wir nicht, wir haben unseren Optimismus hart erarbeitet. Motto: Wer die Welt in einem etwas besseren Licht sehen will, der sollte sich möglichst lange in der Dunkelheit aufgehalten haben. Dies haben wir als ehemalige leitende Redakteure des deutschen Umweltmagazins "Natur" in ausreichendem Maße getan. Monat für Monat wurde auf den Seiten unserer Zeitschrift der dräuende Weltuntergang beschworen, der Tod war unser ständiger Begleiter. Waldsterben und Robbensterben, Insektensterben und Vogelsterben, ja sogar ein Spermiensterben schien unmittelbar bevorzustehen.

Zum Glück weigerte sich das richtige Leben hartnäckig der redaktionellen Linie zu folgen. Zu einem besonders eklatanten Fall von Insubordination kam es während einer Redaktionskonferenz Anfang der neunziger Jahre. Es war Frühling und durch das geöffnete Fenster drang mitten in der Stadt das romantische Lied einer Mönchgrasmücke an unsere Ohren. Was ein junger Praktikant mit der vollkommen unpassenden Bemerkung quittierte: "Da pfeift schon wieder eine eurer ausgestorbenen Vogelarten."

Das Lachen entfaltete eine subversive Wirkung und die Mönchgrasmücke begann ganz leise an unsere Überzeugungen zu rupfen. Wir veröffentlichten einen Report über die erstaunliche Anpassungsfähigkeit vieler Tiere, die sich mittlerweile in den Städten wie zuhause fühlen und prächtig vermehren. Als artenreichstes Biotop der Stadt Frankfurt stellte sich ausgerechnet eine Gebrauchtwagenhalde heraus, auf der sich seltene Pflanzen und Insekten angesiedelt hatten.

Die Natur entpuppt sich immer wieder als Weltmeister der Anpassung, Veränderung ist ihre tägliche Geschäftsgrundlage. Unterstützt von praktischem Umweltschutz feiert sie mitunter in Atem beraubendem Tempo ein Comeback. Das gilt nicht nur für Mücken sondern auch für Elefanten, die sich in vielen Ländern Afrikas prächtig erholten. Bedauerlicherweise wurde unsere Begeisterung für dieses Phänomen von unseren Lesern überhaupt nicht geteilt.

Statt dessen lernten wir eine neue Erscheinung kennen, die uns seit damals begleitet: Einst wurde der Überbringer schlechter Nachrichten geköpft oder endete im Kerker. Mittlerweile ist es umgekehrt. Schlechte Neuigkeiten scheinen ausgesprochen willkommen zu sein, gute Botschaften lösen Verdacht aus. Die Nachricht "Der Rhein ist vergiftet" wird mit einer gewissen Genugtuung aufgenommen, die Nachricht "Der Rhein wird sauberer" dagegen mit höchster Skepsis. Das Faktum "Der Wald lebt und wächst " führt gar zu ausgesprochener Verärgerung.

Als Überbringer solch guter Botschaften wurden wir zwar nicht geköpft, aber die erregten Natur-Leser kündigten reihenweise ihre Abonnements, warum wir alsbald auf die rote Liste der gefährdeten Redakteure gerieten. Da unser Ruf ohnehin ruiniert war, entschlossen wir uns 1993, unseren Abschied zu nehmen und es fortan ganz ungeniert zu treiben. Wir schrieben das Buch "Öko-Optimismus", eine Bestandsaufnahme der zahllosen positiven Entwicklungen im Umweltschutz: Von regenerierten Rhein bis zum blauen Himmel über der Ruhr, vom Rückgang des Bevölkerungswachstums bis zur Rückkehr verloren geglaubter Tierarten.

Das Buch entwickelte sich zum Bestseller, was unseren Optimismus naturgemäß beflügelte, mancherorts aber nicht so gerne gesehen wurde. Die Verbindung der Worte "Ökologie" und "Optimismus" wurde von den Hohepriestern des Ökologismus als reine Blasphemie empfunden. Der Präsident des Naturschutzbundes Deutschland, wollte das Wort daher "noch nicht einmal in den Mund nehmen". Optimismus empfand er wohl irgendwie bedrückend. Der österreichische Philosoph Günther Nenning witterte gar "einen Dolchstoß ins grüne Auge" und rief uns auf einem Podium erregt zu: "Ihr müsst widerrufen!" Unsere amüsierte Nachfrage beim heiligen Vater ergab: Das war tatsächlich ernst gemeint.

Unsere erste Fernsehdebatte bestritten wir dann in optimistischer Unschuld beim Bayrischen Rundfunk, der eigentlich noch nie durch besonders kritische Berichterstattung aufgefallen ist. Aber Optimismus geht dann selbst in Bayern zu weit. Schon während des Vorfilms wurde uns rasch klar, dass wir zu unserer eigenen Hinrichtung eingeladen waren. Die Thesen aus Öko-Optimismus wurden mit Bildern von Tankerkatastrophen und Erdbebenopfern, von Chemieunfällen und Hungersnöten unterlegt. Und dann wischte ein Schwamm über die Kamera, wisch und weg, alles wird gut, hier kommen die Gesundbeter vom Dienst. Zur Einstimmung des Publikums trug dann noch eine junge Frau von der "Deutschen Autofahrerpartei" bei. Sie versicherte, selbst den Weg zum Zigarettenautomat grundsätzlich mit ihrem BMW zurückzulegen, womit sie uns nicht wirklich einen Gefallen tat. Die Botschaft an das Publikum war somit komplett: Öko-Optimisten fahren mit dem Auto zum Zigarettenautomat, na bitte.

Wir waren zwar mit der Straßenbahn zum Schlachthof gefahren, und besitzen auch keinen BMW. Aber prinzipiell ist Optimisten natürlich alles zuzutrauen. Fünf Jahre später können wir sagen: Anfangs tut es manchmal weh, aber mit der Zeit macht Optimist sein richtig Spaß. Wer in einer Diskussionsrunde deutscher Kulturpessimisten darauf hinweist, dass die wichtigsten Indikatoren für das Wohlergehen der Menschheit sich immer besser entwickelt haben, der erzielt eine durchschlagende Wirkung. So etwa wie jemand, der in einem katholischen Gottesdienst ein Präservativ aufbläst. Beides hält jung, befördert allerdings nicht das Sozialprestige.

Je schlechter jemand über die Welt und seinen Mitmenschen berichtet, desto besser ist er angesehen. "Das schlimmstmögliche Szenario für wahrscheinlich, ja wahr zu halten, egal ob es sich um Hunde, Rinder oder ertrunkene Kinder handelt, gilt als Ausweis des kritischen Bewusstseins", schreibt die Publizistin Katarina Rutschky, "mit einer gewissen moralisch, aber auch intellektuell gefärbten Wollust lassen sich deshalb alle gern über den desolaten Zustand der Welt informieren." Wer besonders schlechtes erwartet ist stets auch auf der sicheren Seite. Man verzeiht dem falschen Propheten, wenn es besser kommt als er es vorausgesehen hat.

Bei dieser Gelegenheit wollen wir ein wenig die Fakten streifen. Dem Optimisten kommt dabei zu Pass, dass er sich heute im Internet antiquarische Bücher besorgen kann. 1972 prophezeite Paul Ehrlich, einer der prominentesten Alarmrufer und Warner aus den USA ("Die Bevölkerungsbombe"), wie die Zukunft aussehen wird, in der wir heute leben. Um es kurz zum machen: die Welt wäre bereits so gut wie untergegangen. Ehrlich sagte allen Ernstes voraus, dass die Hälfte der 3,5 Milliarden Menschen, die 1972 auf der Erde lebten, verhungern werden. Den biologischen Tod aller Meere datierte er auf 1979. Außerdem würden kaum noch Pflanzen wachsen, weil das Sonnenlicht nicht mehr durch die verschmutzte Luft dringen könnte. Die Lebenserwartung in USA werde 1980 auf 42 Jahre sinken. Ab 1974 muss das Wasser in Nordamerika rationiert werden und Seuchen breiten sich aus. Da fällt das gleichzeitige Aussterben fast aller Tierarten eigentlich kaum noch ins Gewicht.

Und Ehrlich war keine Ausnahme: "Global 2000", die von US-Präsident Carter in Auftrag gegebene Zukunftsstudie, prophezeite, die Preise für Nahrungsmittel werden bis zum Jahr 2000 weltweit zwischen 35 und 115 Prozent ansteigen. In Wirklichkeit sind sie um 50 Prozent gefallen. In seinem berühmten Report "Die Grenzen des Wachstums" verkündete Dennis Meadows im Auftrag des "Club of Rome" 1972, das Ende der globalen Erdölvorräte zur Jahrtausendwende. Jeder kann sich heute bei der Tankstelle seiner Wahl vom Gegenteil überzeugen.

Die Zeitungen gaben dem deutschen Wald Anfang der achtziger Jahre noch fünf bis zehn Jahre Lebenszeit. Heute ist klar: Als fast die gesamte Nation an den nahen Untergang des Waldes glaubte, nahm der Wald in Deutschland und Europa zu. Und zwar sowohl auf der Fläche (also mehr Wald), als auch im Volumen (also kräftigere Bäume). Die Schäden blieben auf bestimmte Gebirgslagen konzentriert.

Wer mit seinen Prognosen so meilenweit daneben lag wie Ehrlich, Meadows und Co., wird nicht mehr sonderlich ernst genommen - sollte man meinen. Weit gefehlt! Die meisten Apokalyptiker von gestern dominieren mitsamt ihrer Thesen bis heute in den Talk- und Expertenrunden. Sie zeigen keinen Hauch von Selbstkritik und schieben - wie die Zeugen Jehovas - den Weltuntergang immer um ein paar Jahre weiter nach vorne. Das Jahr 2050 ist derzeit ein ganz heißer Tipp. Schon Karl Valentin wusste: "Die Zukunft war früher auch besser".

Die Unberechenbarkeit der Zukunft und die Wandelbarkeit der menschlichen Gesellschaften kommen in Szenarien der Berufs-Pessimisten nicht vor. Erfindungsreichtum ersetzt Ressourcen und erweitert die Spielräume. Viele Umweltproblem wurden schneller gelöst, als die Ideologen es gebrauchen können. Ausgerechnet die westliche Ich-Gesellschaft heilte im Zeitraffertempo die ökologischen Verheerungen des sozialistischen Biotops namens DDR. Dabei hätte die nach Ansicht der Ideologen eigentlich ein ökologisches Paradies sein müssen: Keine Flüge nach Mallorca, keine Kiwis aus Neuseeland, eingeschränkter Individualverkehr, kein McDonalds, Konsumverzicht allenthalben. Doch heraus kam eine gigantische Sondermülldeponie.

Apokalyptiker und Kulturpessimisten betrachten den Menschen immer nur als Verbraucher und Verursacher und nie als Problemlöser und Erschaffer. Der Mensch wird nur noch als Krebsgeschwür und Belastung der Natur verachtet - wie will man mit diesem Denken Zukunft meistern? Der sich ökologisch gebende Zeitgeist pflegt die Geschichte der Wissenschaft und der Industrialisierung gerne als Verfallsgeschichte darzustellen. Welch merkwürdige Sichtweise. Man schaue sich doch nur die jüngste Vergangenheit an: Fortschritt ist eine messbare Tatsache. Er misst sich an Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Alphabetisierung, Nahrungskalorien pro Kopf, Durchschnittseinkommen und vielen anderen Indikatoren. Welchen davon man auch immer nimmt, alle sahen vor 25, 50 oder vor 100 Jahren schlechter aus als heute. Die Welt ist besser geworden, entgegen aller Prognosen von Endzeitpropheten und kulturpessimistischen Intellektuellen.

Die Luft ist reiner geworden in vielfacher Hinsicht, nicht nur, was Schadstoffe, sondern auch, was die Politik anbetrifft. So waren vor wenigen Jahrzehnten Osteuropa, Spanien und Portugal noch Diktaturen, Afrika und Ostasien größtenteils noch Kolonien. Sowohl in relativen wie in absoluten Zahlen sinkt die Zahl der unterernährten Menschen seit Jahren, die Lebenserwartung steigt auch in den armen Ländern steil an. Ausnahme sind einzig einige korrupte Diktaturen in Afrika und planwirtschaftliche Systeme wie Nordkorea. Amartya Sen, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, weist in seinem Buch "Ökonomie für den Menschen" nach , dass es in einer Mehrparteien-Demokratie mit freier Presse noch nie eine Hungersnot gab.

In den letzten 200 Jahren hat sich die Lebenserwartung in Europa verdoppelt und diese Entwicklung wird in den weniger entwickelten Ländern mit einer Zeitverzögerung nachgeholt. Das Wachstum der Weltbevölkerung ist nicht darauf zurückzuführen, dass Frauen immer mehr Kinder bekommen, sondern darauf dass immer mehr Kinder überleben. Weltweit liegt heute die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau bei 2,7. Das ist der niedrigste Stand in der gesamten Menschheitsgeschichte. Bei einer Kinderzahl von zwei flacht der Bevölkerungszuwachs ab und pendelt sich schließlich auf einem gleich bleibenden Niveau ein. In Deutschland liegen wir etwas darunter, was prompt wieder zur Schreckensnachricht befördert wird: "Sterben die Deutschen aus?" oder: "Vergreist die Gesellschaft?".

Aus der Lösung alter Probleme werden immer neue entstehen, es wird kein Weltwochenende geben. Die Welt mag nicht so sein, wie sie idealerweise sein sollte, aber trotz aller Missstände ist sie global betrachtet auf einem guten Weg. "Wir sind entsetzt wie viel Menschen heute noch an Hunger sterben müssen", sagt Umberto Eco, "noch mehr sollte uns aber die Zahl der Verhungerten in vergangenen Jahrhunderten erschrecken. Insbesondere wenn man die Zahl der Weltbevölkerung von einst gegenüberstellt." Und was die Verantwortlichen für Kriege und Blutbäder des 20. Jahrhunderts angeht, so werden diese zumindest nicht mehr, wie ihren mittelalterlichen Vorgänger, mit Denkmälern geehrt oder in der Kunstgeschichte verherrlicht. "Alles in allem haben wir eine Vorstellung dessen gewonnen, was gut und was böse ist," zieht Eco eine positive moralische Bilanz, "dank dieser neuen Werte sind viele von uns noch am Leben, während in vergangenen Epochen ein mächtiger sie einfach um die Ecke gebracht hätte."

Kurzfristig mögen die Pessimisten immer mal wieder recht bekommen, aber langfristig haben bislang immer noch die Optimisten besser gelegen. Deshalb ist es höchste Zeit mit dem "Fünf vor Zwölf"-Gedröhne aufzuhören. Die Menschheit schreitet stolpernd voran und wird auch weiterhin Fehler machen um (manchmal) klüger aus ihnen zu werden. Aber ist es deshalb beständig "Fünf vor Zwölf"? Viel wahrscheinlicher ist einfach nur zwölf vor fünf.

Dennoch zieht sich durch alle Großdebatten der letzten Zeit ein ängstlicher Zukunftspessimismus. Warum flackert kaum noch ein positives Zukunftsbild auf? Warum ist es allgemein üblich, so niedrige Erwartungen an die Zukunft zu stellen? Der Katastrophen-Konsens eint die Deutschen wie kein zweites Thema. In ihrer Rolle als schreckliche Optimisten saßen die Autoren dieser Zeilen schon prall gefüllten Bürgersälen gegenüber, in denen ihnen eine überwältigende Mehrheit aus ambitionierten Weißweintrinkern in gepflegter Abendgarderobe vorwarf, den desaströsen Zustand der Welt zu verharmlosen und dem so genannten "mainstream" nach dem Munde zu reden. Die offensichtliche Tatsache, dass es weder im Saal noch sonst wo auch nur den Hauch eines optimistischen "mainstream" gab, spielte dabei nicht die geringste Rolle. Die ganz große pessimistische Mehrheit hält sich erstaunlicherweise stets für eine einsame, aber tadellose Minderheit. "Das kritische Bewusstsein der kulturkritischen Bildungselite ist zum volkstümlichen Konsumgut geworden, nicht anders als der Weißwein in der Eckkneipe oder der Anspruch auf Authentizität in jeder anderen Hinsicht," schrieb Katharina Rutschky und fragt: "Traditionell war das kritische Bewusstsein immer negativ - vielleicht müssen wir nun, wo es zum Volksport geworden ist, eines ausdenken, das positiv ist?" Dem möchten wir aufs schärfste zustimmen: Nichts ist heute subversiver als Optimismus.



http://www.maxeiner-miersch.de/optimismus.htm
Von Dirk Maxeiner
und Michael Miersch