Wie wir gelernt haben, alles Männliche zu verachten. Und warum das auch den Frauen schadet. Ein Essay
Gleich zu Beginn der Finanzkrise sah das Magazin der Süddeutschen Zeitung, wie sich ein unheimlicher Penis der Zerstörung erhob. Neben dem Foto eines erigierten Büroturms und unter der moralstickigen Überschrift Hochmut kommt vor dem Phall schrieb das Blatt: »Die Wirtschaftskrise ist vor allem eine Krise der Männer.« Um in Klammern und kokett hinzuzufügen: »Im Ernst: Wäre Frauen der ganze Mist passiert?«
Die einzig sinnvolle Antwort »Klar, warum denn nicht?« fiel dem Autor nicht ein. Stattdessen raunte er von der Gier, dem Machthunger, der Gewissenlosigkeit und dem Egoismus der Männer, genauer: der »Herde von Männern«, um das Animalische im Manne auch gebührend zu entlarven. Unklar blieb allerdings, ob der männliche Redakteur damit auch eine Selbstbeschreibung lieferte und was das für seinen Text bedeutete: tierisch gut, tierisch schlecht, tierisch blöd?
Er wähnte sich wohl in bester Gesellschaft, denn etwa zur gleichen Zeit deutete der Trendforscher Matthias Horx die Finanzmalaise zur »Testosteron-Krise« um. Vermutlich unabhängig davon gelobte die nach dem Bankencrash gewählte isländische Premierministerin Jóhanna Sigurðardóttir, das »Zeitalter des Testosterons« zu beenden. Das wiederum dürfte die Financial Times Deutschland begrüßt haben, schrieb sie doch unter der Überschrift Ausputzfrauen ohne Umschweife: »Frauen sind die besseren Finanzexperten. (...) Nun sollen sie die Trümmer der Männer wegräumen – und mit ihrem Gespür für Risiken den nächsten Absturz verhindern.«
Die Welt war wieder heile, also eigentlich kaputt. Kriegstreiber und Trümmerfrauen, die Männer reißen ein, die Frauen bauen auf, Testosteron zerstört, Östrogen heilt.
Man würde vermutlich unnötig strenge Maßstäbe anlegen, verlangte man eine halbwegs plausible Erklärung dafür, warum der schwankende Testosteronspiegel einer Männerpopulation sich auf die internationale Finanzwelt auswirken soll: etwa auf die globalen Ungleichgewichte von Handelsströmen und Zahlungsbilanzen oder auf das Kleingeschriebene der Euro-Verträge, die erst mit einem Jahrzehnt Verzögerung ihre Fatalität offenbaren.
Ach, da solle man nicht kleinlich sein? Es reiche doch schon der Hinweis, dass vor allem Männer als Banker arbeiten. Klar: Und so viele Kinder scheitern bereits in der Grundschule, weil dort überwiegend Frauen unterrichten...
Also noch mal: Worum geht es? Welchen Erkenntniswert erhoffen sich die Autoren, wenn sie die Finanzkrise und die meisten anderen Krisen unserer Welt – Hormone hin oder her – den Männern in die Schuhe schieben? Was genau meinen sie damit?
Denn es dreht sich ja nicht nur um die Wirtschaftskrise. Als sich im vergangenen Jahr überwiegend Männer in Davos zum Elitegipfel trafen, legten sie, berauscht von der Höhenluft, ein Papier vor mit dem hoffnungsfrohen Titel: »Sechs globale Herausforderungen, eine Lösung: Frauen!« Feminine Linderung versprechen sie sich unter anderem bei Arbeitslosigkeit und Kriegen, in Fragen der Bildung und solchen der alternden Gesellschaft. Was im Umkehrschluss vermuten lässt: In diesen Fällen sind Männer das Problem, oder sie erzeugen es.
Diese Diagnose würde wohl der ehemalige französische Außenminister Bernard Kouchner teilen, der 2008 in pompöser Schlichtheit konstatierte: »Fortschritt wird durch Frauen erzielt.« Dass Männer im Kontrast dazu als »Feinde der Menschheit« gelten müssen, hat sogar die ZEIT schon vor zehn Jahren getitelt.
Man kann aus solchen Erkenntnissen auf verschiedene Weise Profit schlagen: mit brachialer Rhetorik wie die schwedische Politikerin Ireen von Wachenfeldt, die in hinreißender Offenheit befand: »Männer sind Tiere« – was die Feministische Partei Schwedens mit der Forderung nach einer »Männer-Steuer« begleitete. Oder indem man die Paranoia pflegt wie die Innsbrucker Politik-Professorin Claudia von Werlhof, die Männer verdächtigt, im Rahmen des »kapitalistischen Patriarchats« das verheerende Erdbeben von Haiti ausgelöst zu haben – weil sie den naturfeindlichen Männern auch bizarrste geologische Experimente zutraut. Oder indem man sich dem Mainstream der Gesellschaft andient, wie im aktuellen Grundsatzprogramm der SPD , das unter Kapitel 3.4 fordert: »Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden.«
Sollten wir daraus folgern, dass die Herren Gabriel und Steinmeier einen minderen Anteil an Menschlichkeit besitzen als die Damen Nahles und Kraft? (Wobei, sorry, Letztere dank ihrer Schuldenpolitik keinen Zutritt zum Anti-Testosteron-Club der Ausputzfrauen erhalten sollte.) Und wann wäre dieser Logik nach eine Gesellschaft endlich hinreichend unmännlich, also menschlich: Wenn sie 50 Prozent oder 33 oder 17,3982 Prozent Männlichkeit enthielte? Und wie viel enthält noch mal die jetzige?
Ach, darum geht es auch nicht? Aber worum dann? Worum genau?
Womöglich sind diese Aussagen ja nur zu verstehen, wenn und weil sie eben nichts Genaues meinen. Weil sie nur ein vages Unbehagen äußern, einen groben Vorwurf, der davon lebt, immer unpräzise und daher stets irgendwie plausibel zu sein. Doris Lessing , die große feministische Autorin, beklagte, die Abwertung des Männlichen sei »so sehr Teil unserer Kultur geworden, dass sie kaum noch wahrgenommen« würde. Betäubendes, betäubtes Hintergrundrauschen.
Männlichkeit muss gar nicht erst durch nachprüfbare Kausalketten mit dem Unerwünschten verknüpft werden. Sie erfüllt eine viel schlichtere Aufgabe: Sie ist die Kurzformel für Missstände aller Art. So wie wir gelernt haben, schneller Reize wegen Bildschirme und Plakatwände mit nackten Frauen zu füllen, so haben wir uns antrainiert, jedem Problem einen männlichen Defekt beizugesellen, der es irgendwie verursacht haben soll. Kausalitätspornografie.
Das erlaubt es, über Männer so pauschal und abfällig zu sprechen wie über keine andere Gruppe. Oft genügt für die Verurteilung der bloße Verdacht. Als der frühere Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn , am 14. Mai 2011 in New York verhaftet worden war, weil eine Hotelangestellte behauptet hatte, von ihm vergewaltigt worden zu sein, wusste Amerikas Alpha-Kolumnistin Maureen Dowd in der New York Times schon am nächsten Tag, dass sich DSK »wie ein Bure« (Apartheid!) und »Primitiver« (Barbarei!) im »Höhlenmenschen-Stil« (Neandertaler!) auf »eine hart arbeitende, gottesfürchtige, junge Witwe« (Engel!) gestürzt hatte. Der Spiegel entlarvte nach dem Vorfall den Mann gar als »des Menschen Wolf« (Feind der Menschheit!). Kurze Zeit später ließen die Staatsanwälte alle Vorwürfe gegen Strauss-Kahn fallen .
Es geht nicht darum, diesen Politiker zu verteidigen. Wie man heute weiß, hat er häufig zumindest den Respekt für Frauen vermissen lassen. Es geht darum, zu bemerken, dass einem Mann blindlings eine Vergewaltigung zugetraut wird. Einer Frau aber nicht einmal eine Lüge. Artikel über die Niedertracht der Hotelangestellten sind jedenfalls nicht bekannt, wären indes ebenso evidenzfrei denkbar gewesen. Aber natürlich würden die Leser sie als nicht satisfaktionsfähige Dummheit durchschauen. Geht es dagegen um Männer, adeln wir den Hirnriss zur Erkenntnis: Gerade weil nichts Genaues bekannt ist über die Geschehnisse in Suite 2806 des New Yorker Sofitel, füllen wir das Vakuum mit dem Fantasiebild vom bösen Mann. Geht es um Abscheuliches, dient er als beliebteste Ursache.
Der antimaskuline Reflex lässt sich noch einige Niveaustufen absenken, um dann zu einem formlosen Faul- und Tumbheitsverdacht zu werden, wie ihn gerade beispielhaft der Philosoph Richard David Precht in der Für Sie äußerte: »Die Anzahl der Männer, die mit einem Bier vor dem Fernseher Fußball gucken und einfach nur glücklich sind, ist nun wirklich größer als die Anzahl der Frauen bei einer vergleichbaren Tätigkeit.« Wobei im Dunkeln blieb, a) woher die Statistik stammt und b) was unter einer vergleichbaren Tätigkeit zu verstehen ist: Haar-Extensions einkleben, Germany’s next Topmodel gucken und dabei Baileys schlürfen oder mit der Freundin die neuesten Abenteuer aus den Feuchtgebieten betratschen? Wenn es um Männer geht, begeben sich halt auch Philosophen auf Augenhöhe mit Mario Barth.
Und da wir schon ein bisschen geprobt haben: Versuchen wir einmal, im Duktus der Männerphobie über andere soziale Gruppen zu sprechen. »Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die Gesellschaft der Juden überwinden.« Oh Gott! »Das Zeitalter der Östrogene muss beendet werden.« LOL, oder für die Älteren unter uns: haha. »Schwarze sind Tiere.« Oh nein – aber wenn es sich um schwarze Männer handelt, dann ist es vielleicht doch sagbar.
Ach, das ist jetzt aber maßlos übertrieben? Und wenn es das ist, warum spicken wir dann Artikel über Männer mit solchen Maßlosigkeiten? Es ist notwendig, für die Antwort ein wenig auszuholen.
Feministinnen gelten landläufig als Hauptschuldige am verbreiteten Männerhass. Mal sollen die radikalen Varianten der Post-68er für unser schäbiges Männerbild verantwortlich sein, mal wird die erste Welle der Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts als Quelle genannt. Beides ist falsch. Der Feminismus hat die Ideologie der bösen Männlichkeit nicht erfunden, er hat diese nur für eigene Zwecke genutzt und oft sogar richtige und politisch segensreiche Schlüsse daraus gezogen.
Das Stereotyp vom unmoralischen, gewalttätigen, sexuell unersättlichen Mann ist weit vor dem Feminismus entstanden, an einer historischen Schlüsselstelle: zu Beginn der Moderne, um 1800. Die Geburt des maskulinen Zerrbildes ist also unmittelbar mit der Geburt der modernen Gesellschaft verbunden, seither schreiten beide, Moderne und verteufelte Männlichkeit, gemeinsam und untrennbar durch die Historie. Das Unbehagen an der Moderne wurde zum Unbehagen am Mann. Und umgekehrt.
Und wir müssen an den Startpunkt zurückgehen, um uns von diesem Missverständnis zu befreien.
Davor erhebt sich allerdings eine hohe Hürde; sie besteht in einem Irrtum der Geschlechterwissenschaften. Die gehen mehrheitlich davon aus, zu Beginn der Moderne habe der Mann sich selbst zum Inbegriff des Menschlichen erklärt, als überlegenes Geschlecht, rational, moralisch und fehlerlos. Im Unterschied zur emotionalen, häuslichen und einfältigen Schwundform des Menschen namens Frau. Als »Mann plus, Frau minus« wurde dieses vermeintliche Denkmodell bezeichnet – um es als patriarchal und anmaßend zu bekämpfen.
Nur leider: Es ist bloß ein Mythos. Um 1800 kommt als eigentliche historische Neuerung vielmehr ein Diskurs auf, der Männer als naturhaft unmoralisch, gewalttätig, egoistisch, asozial, hypersexuell, gefühlskalt, kommunikationsunfähig und verantwortungslos charakterisiert. Die Vorwürfe beginnen etwa um 1765. Im Jahre 1779 weiß der schottische Aufklärer William Alexander bereits: »Der Mann ohne weibliche Begleitung ist ein gefährliches Tier der Gesellschaft.«
Kurz darauf sieht der deutsche Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt in naturaler Männlichkeit nichts als »Härte und Gewaltthätigkeit«, nur »Einseitigkeit« und »Mangel«, was ihn zur Schlussfolgerung verleitet: dass »sich der Mann von seinem Geschlecht lossagen und sich dem Weiblichen nähern müsse, um wahrer Mensch zu werden«. Die SPD hat von ihm gelernt.
Andere bürgerliche Denker, die heute keiner mehr kennt, finden in Männern nichts als »Egoismus der gröbsten Art, instinktmäßigen Eigennutz« und eine »grausame und gleichgültige Natur«. Kein Wunder, dass von diesem bloßen »Stück kalter Vernunft« nur das Übelste zu erwarten ist: »die Gefühllosigkeit der Männer vernichtet die Menschlichkeit«.
Vieles von dem, was um 1800 zum Standard von Männlichkeitsbeschreibungen wird, lässt heutige Radikalfeminismen zu Poesiealben-Prosa verblassen. Alle Männer sind Vergewaltiger? Klar, schreibt John Millar 1787, nennt es allerdings »universale Prostitution«, die Männern den Frauen aufzwängen. Diese wiederum verfolgten unbeirrt ihren Weg, denn wo »es auf Vernunftgebrauch ankam, scheint immer das Weib die Bahn gebrochen zu haben...«. So schreibt es 1793 Theodor Gottlieb von Hippel , ein enger Freund von Immanuel Kant . (Und offenbar Inspirator von Herrn Kouchner.)
Man darf, trotz all dieser befremdlichen Begriffe, solche Einlassungen nicht als Randdiskurs missverstehen. In Aberhunderten Quellen der Zeit, in Büchern, Aufsätzen, Traktaten, finden sich die Spuren dieser aufkeimenden Überzeugung, die bedeutendsten Philosophen von Adam Smith über Kant zu Hegel wirken an ihr mit, bis dieses »Wissen« vom Mann um 1850 schließlich Eingang in die Lexika findet und kanonisch wird. (Erst dann kommt auch der Gedanke auf, die Guten und die Schlechten zu sortieren: Das Kommando »Frauen und Kinder zuerst« fällt erstmals 1852 auf einem Schiff Ihrer Majestät, Königin Viktoria.)
An vorderster Front agitiert Johann Gottlieb Fichte , der Philosophenstar nach Kant. Die Beschäftigung mit ihm ist besonders aufschlussreich, weil er das Geschlechterdenken der Moderne wie kein anderer auf den Punkt bringt. Gemeinhin wird er als übelster Frauenfeind geführt, denn in der Tat: Er spricht verheirateten Frauen jegliches Recht ab und verlangt, sie hätten alle Individualität aufzugeben, um sich ganz dem Manne zu unterwerfen.
Aber warum? Weil der Mann derart überlegen ist und von solch höherer Beschaffenheit, dass sie vor ihm zu kriechen habe? Keineswegs! Der Grund klingt weitaus hässlicher für den Mann, von dem Fichte vermutlich das abfälligste, das heimtückischste Bild zeichnet, das je entworfen wurde.
Männer sind für ihn pure Triebtiere, allein der »niedern Sinnlichkeit« nachjagend, der »Geschlechtslust« – worin das »Wesen der Unmoralität« besteht. Sie sind restlos unfähig zu lieben, auch können sie keinerlei menschlich-warmen Kontakt zu ihren Kindern aufnehmen, allein die Vermittlung durch die Ehefrau kann das Gröbste lindern. So autistisch sind Männer in sich verpuppt, so sehr dem primitivsten Egoismus verhaftet – philosophisch feinsinnig formuliert: der Verabsolutierung ihrer Subjektivität –, dass Fichte sie als Prototyp des »absoluten Bösen« brandmarkt. In der säkularen Moderne ersetzt der Mann den Teufel als Eichmaß des Abscheulichen.
Und wo ist Rettung aus dieser Kältekammer des Männlichen? Man ahnt es: bei der Frau natürlich. Nur sie, und nur sie allein, ist zur Liebe und damit zur Ehe fähig – dem Ort, darin ist Fichte kategorisch, »aller Moralität«. So kann allein sie den Mann zivilisieren und die bürgerliche Gesellschaft zu einer leidlich anständigen machen: indem die Frau sich unter Aufgabe aller Individualität und aller Rechte unterwirft, um durch die Übergröße ihres Opfers im Manne wenigstens ein paar moralische Anwandlungen zu wecken. Und diese dann im Laufe der Ehe so weit zu nähren, dass der Mann wider seine Natur zum brauchbaren Mitglied der Gemeinschaft emporsteigt.
Es klingt wie ein böser Traum – aber so gewalttätig, so furchterregend für beide Geschlechter präsentiert sich der Ur-Gedanke der modernen Männerskepsis.
Er ist auch eine Revolution: Als erste Epoche erzählt die Moderne keine Heldengeschichte der Männer, sondern eine Problemgeschichte. Das schließt nicht aus, zivilisierte Männer, die ihre Natur hinreichend überwunden haben, als Vorbild zu verherrlichen – es gibt um 1800 stets auch die Perspektive auf eine taugliche, weil reformierte Männlichkeit. Ebenso finden sich Übertreibungen in die Gegenrichtung, die das Bestialische des Männlichen zur Weltenkraft hochschreiben – und dem Manne alle kalten Talente zuschreiben, die Moderne zu bewältigen: Wissenschaft, Technik, Krieg. Aber im Zentrum des Geschlechterverhältnisses steht nicht der überlegene Mann. Sondern der unmoralische.
Dieser Einsicht folgt eine verhängnisvolle Geschlechterlogik. Die Verworfenheit der Männer bedeutet nämlich auch für die Frauen nichts Gutes: Die haben jetzt ganz anders zu sein! Wenn Männer das Problem der Gesellschaft sind, müssen Frauen die Lösung darstellen. Das geht nur, wenn sie von grundlegend anderem Charakter sind: einfühlsam, passiv, friedlich – der ganze Kanon der Beleidigungen einer reduzierten Weiblichkeit. Das Spiegelbild eben zu den Beleidigungen einer reduzierten Männlichkeit.
Und wenn die Zivilisierung qua guter Weiblichkeit misslingt? Dann gnade Gott den Menschen. Die Erde wandelt sich zur Hölle des Maskulinen. »Der natürliche Egoismus unseres Seyens würde die ganze Schöpfung zerstören«, schreibt ein lange vergessener Autor im Jahre 1800, und ein anderer malt 1798 unter dem Titel »Das andere Geschlecht, das bessere Geschlecht« folgendes Schreckbild seiner selbst: »Man kann gewiss seyn, dass die Welt längst zur großen, menschenleeren Wüste geworden wäre, wenn bloss Männer darauf gesetzt worden wären. Sie würden unfehlbar in Kurzem sich alle einander gemordet haben. Die Welt weiss nicht wie viel sie in dieser Hinsicht dem andern Geschlechte zu danken hat.«
Die beklemmenden Imaginationen von Männlichkeit und Weiblichkeit sind zeitgleich entstanden. Und bedingen einander. Doch während wir das Frauenbild inzwischen einer gründlichen Renovierung unterzogen und mit überfälligen Ergänzungen angereichert haben, sind uns ähnliche Aufhellungen des Männerbildes misslungen. Stattdessen macht unsere Gesellschaft es sich in einem Murmeltiertag der Männerressentiments behaglich und glaubt auch noch, durch deren unablässige Wiederholung die Geschlechterverhältnisse zu verbessern.
So gleichförmig sind die Vorhaltungen, dass an ihnen nicht einmal die Jahrhunderte abzulesen sind:
»Alle Bösewichter sind Männer. Gibt es irgendetwas Gutes auf der Welt, was die Männer gemacht haben? Nur Frauen sind gut.« (Lars von Trier, Regisseur und nach einem Nazi-Spruch selbst als Bösewicht entlarvt, 2003)
»Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen für die Männer. Du sollst ihre Barbarei nicht beschönigen mit Worten und Werken« (Friedrich Schleiermacher, Theologe, 1798).
»Der Krebsschaden unserer Kultur ist der zu starke Vorrang der Männlichkeit« (Alfred Adler, Psychologe, 1910).
So langweilen wir einander durch die Jahrhunderte und halten dies auch noch für wahlweise mutig, kritisch, aufschlussreich.
Aber wodurch wurde die Vorstellung von der bösen Männlichkeit ausgelöst? Man könnte vermuten, durch das Verhalten der Männer selbst. Durch empirische Beobachtung gewissermaßen. Aber das bestätigt sich nicht. Im Gegenteil: Um 1800 machte der empfindsame Mann Karriere, der sich von Macho-Gehabe lossagte. Gewalttätigkeiten von Männern gingen statistisch belegbar zurück (und tun es bis heute), und der warmherzige, sensible Typ avancierte zum Ideal der Zeit.
Die böse Männlichkeit sollte nicht das Verhalten der Männer erklären, sondern die Umbrüche der Gesellschaft. Die Ständegesellschaft zerfiel, Hierarchien begannen sich aufzulösen, und die Individuen wurden – meist gegen ihren Willen – aus alten Bindungen freigesetzt. An die Stelle der Tradition trat ein unübersichtliches, instabiles Gebilde: die moderne Gesellschaft. Arbeitsteilung, Individualisierung, Vervielfältigung von Rollen durch neue Berufe, neue Verhältnisse. Diese Welt wurde gefeiert – und gefürchtet. Die Aufklärer bejubelten zwar, um sich selbst zu beruhigen, die Vernunft, aber die eigentlichen Schlagworte der Zeit lauteten: Entfremdung, Zergliederung und Auflösung.
Und die Ursache? Man wusste sich nicht besser zu helfen, als die Geschlechter zu nehmen. In einem vielschichtigen Denkprozess wurde das Bedrohliche – aber auch Aufregende – des Neuen mit Männlichkeit verbunden. Und das Verlässliche – und Betuliche – der Tradition mit Weiblichkeit. Mit Männern wagte man sich an die Probleme, was sie als problematisch stigmatisierte. Mit Frauen blieb man auf sicherem Grund, was sie zu Hüterinnen reduzierte.
Die Männer, Kaufleute, Gelehrte und Philosophen, wurden gedacht als besonders infiziert vom Neuen – und als dessen Ursache. Ihre Sinne vertrockneten angeblich, ihre Herzen erkalteten, weil sie wie Fabrikwaren in die Welt geworfen wurden. Ihre böse Natur sollte dazu passen, und sie passte sich an. So wurde Männern die Gier der Wirtschaft und die Machtlüsternheit der Politik als geschlechtsspezifisch unterstellt. Die unheimliche Moderne wurde männlich.
Als die Gedanken in der Welt waren, begannen sie die Geschlechter nach ihren Vorgaben zu formen. Frauen hatten in der Häuslichkeit die gefährliche Welt gut zu machen und galten schließlich als unfähig zu höheren Einsichten, Männer wurden bald als lieblose Störenfriede in der Familie marginalisiert.
Besonders grausam traf es Homosexuelle. Kaum war der Mann als soziales Zentralproblem etabliert, galten zwei miteinander verbundene Männer als unerträgliche Bedrohung. So wandelte sich eine in Maßen tolerante Gesellschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts an zum Horror für Schwule. Und parallel dazu wurden die Heteros in immer schärferen Disziplinaranstalten eingehegt, in Internaten, Kasernen, Gefängnissen und Krankenhäusern.
Am Anfang der Männerskepsis steht also nicht eine problematische Männlichkeit, sondern eine als problematisch empfundene Gesellschaft, die verzweifelt nach einer Ursache ihrer Problematik sucht. Und diese in den Männern findet. Dabei war der Zusammenhang niemals streng, sondern immer vage, porös und provisorisch. Bis heute. Das große Irgendwie der Schuldzuweisung.
Ähnlich grobschlächtig verläuft daher die Therapie. Denn am Manne versucht sich die Gesellschaft seither selbst zu therapieren. So avancierte der »Neue Mann« zum Notnagel. Vom Mann wird Selbstverbesserung in Permanenz verlangt, schließlich belegt jede neue (Finanz-, Welt-, Sinn-)Krise, dass seine jeweils letzte Veränderung unzureichend war.
Das frühe 19. Jahrhundert verdammte den Hagestolz, den Unverheirateten, weil er sich der Zivilisierung durch die Ehe entzog. Die erste Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts verstand sich dementsprechend auch als Reformprogramm von Männlichkeit und propagierte: »Stimmrecht für Frauen, Keuschheit für Männer« – das Erste, um endlich Moralität in die Politik zu bringen, das Zweite, um die wahllos hurenden Bürgermänner zu mäßigen. Die Weimarer Republik forderte einen »Neuen Mann« nahezu im Jahrestakt, besonders prominent ein Aufsatz in der Weltbühne 1925 (Titel: Der neue Mann), in dem es verheißungsvoll hieß, endlich entdecke auch der Mann die Liebe. Seit den 1960ern wird die Versionenzählung der jeweils neuesten Männlichkeit unübersichtlich, gefühlt sind wir beim Neuen Mann 47.0 angekommen – aber noch immer »lassen Männer lieben«, gelten sie als »Auslaufmodell« oder arbeiten die neueste »crisis of masculinity« ab, um Veröffentlichungen der letzten Zeit zu zitieren.
Unter der rein rhetorischen Überschrift Sind Frauen moralischer als Männer? konstatierte das Philosophie Magazin kürzlich: »Der Mann ist das problematische Individuum des 21. Jahrhunderts.« Ein Witz. Der Mann war auch das Problem des 18., des 19. und des 20. Jahrhunderts. Falls wir nicht schlauer werden, wird er auch das des 22. Jahrhunderts sein. Und daneben steht die Frau, von der es heißt, sie sei die Lösung, wenn der Mann sie nur ließe. Aber eine Lösung dafür, wie sie sich durchsetzen kann, hat sie noch nicht.
So hängen wir da, mit grotesk überzogenen Ansprüchen an den Erklärungswert von Geschlecht. Und zugleich mit einer Wirklichkeit, die durchwirkt ist von Geschlecht. Von dessen Überspanntheit und Unausweichlichkeit. Und schlagen uns mit den Folgeschäden herum. Dabei könnten wir schlauer sein.
Wann immer Wissenschaftler ausgezogen sind, grundlegende Differenzen zwischen den Geschlechtern zu finden, sind sie mit leeren Händen wiedergekehrt. Alle Versuche, Verhaltensunterschiede biologisch festzumachen, sind gescheitert, und auch die jüngsten Anstrengungen der »Neurosexisten«, ewiges Weib und ewigen Mann in den Hirnen zu finden, sind in einem Fiasko aus Widersprüchen und Unklarheiten gescheitert.
Statt stabiler Naturen finden Forscher etwas viel Irritierenderes: die federleichte soziale Erzeugbarkeit von Geschlecht. Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber auch innerhalb der Geschlechter, lassen sich bei Experimenten mit geringem Aufwand erzeugen. Oder nivellieren. Meist reichen wenige Worte. In ihrem exzellenten, gerade auf Deutsch erschienenen Buch Delusions of Gender (Die Geschlechterlüge) bereitet die Wissenschaftsautorin Cordelia Fine die Ergebnisse mit Akribie und Humor anhand vieler Beispiele auf.
Männer gelten als begabter in visuell-räumlicher Vorstellung, was sich in Untersuchungen bestätigen lässt (und woraus sich Bestseller schustern lassen, die von den Einparkkünsten der Männer schwärmen). Sagt man Frauen hingegen vor einem Experiment, ihre räumliche Vorstellungskraft sei ebenso gut – dann verschwinden die Unterschiede zu den Männern. Sagt man Männern, sie seien schlechter – dann schneiden sie schlechter ab.
Frauen, so will es das Klischee, gelten als empathischer, versierter im Erkennen von Gefühlslagen. Es sei denn, man sagt Männern, sie seien darin ebenso bewandert – schon erweisen sie sich bei entsprechenden Tests als nicht minder feinfühlig. Mathematische Fähigkeiten? Männer im Schnitt besser. Es sei denn, man sagt Frauen, sie könnten es ebenso gut. (Ein wertvoller Tipp für Mathe-Lehrer.)
Wissenschaftler nennen dieses Verfahren priming – die Impfung mit oder die Dämpfung von Stereotypen. Es scheint, dass die Effekte umso stärker sind, je subtiler das priming erfolgt, je beiläufiger der Abbau von Klischees. Auf der Strecke bleibt dabei jede Form von substanziellem, stabilem Unterschied zwischen den Geschlechtern.
Geschlechterverhalten entsteht nicht durch Hormone, es entsteht durch Worte. Durch das, was wir reden – und uns einreden. Wenn wir es uns lange genug einreden, kann es aussehen wie Natur. Aber selbst dann können wir es noch ausschalten, wie die Versuche zeigen. Nur tun wir das meist nicht. Meist schalten wir ein.
Auch die Wirklichkeit fügt sich längst nicht mehr den stereotypen Formvorschriften der Geschlechterbilder. Sogar im Kern der vermeintlichen Unterschiede, bei Moral, Gewalt und Gier, häufen sich die Belege für ein Geschlechter-Patt.
Geschiedene Männer kommen ihren Unterhaltspflichten nicht immer nach? Ja. Aber wenn Frauen zahlen müssen, überweisen sie deutlich seltener, so eine Studie des Justizministeriums.
Häusliche Gewalt ist vor allem Männersache? Nein. Sie wird von beiden Geschlechtern etwa zu gleichen Teilen ausgeübt, von Beschimpfungen über Schläge bis zum Einsatz von Waffen wie Küchenmessern. Studien zeigen seit den 1970er Jahren konstant, dass »Männer in einem nicht unerheblichen Maße« Opfer häuslicher Gewalt sind, wie der Politologe Peter Döge erst im vergangenen Jahr resümiert hat. Und dass Frauen »zu einem fast gleichen Anteil wie die Männer« Täter sind. Allerdings auf unterschiedliche Art. So misshandeln Frauen häufiger Kinder, Männer verursachen schwerere Verletzungen.
Frauen führen anders, demokratischer? Oft ist das Gegenteil der Fall, und manche Frauen greifen zu besonders autokratischen Methoden, wie eine Studie des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit 2009 ergab.
Frauen bereichern sich weniger? Nicht die weiblichen CEOs in den USA. Die verdienten im Jahre 2009 rund 43 Prozent mehr als der Durchschnitt ihrer männlichen Kollegen.
Frauen bilden weniger Seilschaften? Nicht jene Frauen, die in Norwegen »Goldröcke« genannt werden: Sie wurden durch eine gesetzliche Quote in die Verwaltungsräte gehievt, wo sie seither ein enges, lukratives Netzwerk bilden.
Solche Befunde dürfen nicht als Kritik missdeutet werden oder als Retourkutsche gegen Frauen. Nein, es sind gute Nachrichten. Sie unterwandern die Illusionen von der Geschlechterdifferenz. Männer und Frauen nutzen Gelegenheiten, suchen ihren Vorteil, sichern ihre Macht, streben nach Reichtum und booten andere aus, unterstützen oder traktieren einander – was auch sonst?
Die einzig plausible Einsicht, die aus den Gender-Wissenschaften zu ziehen ist, hat die Münchner Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken kürzlich in einem Interview im Philosophie Magazin eher beiläufig gezogen: »Es gibt keine Natur.« Männer haben keine, Frauen auch nicht.
Doch wo Natur nicht wirkt, wirken Worte. Deshalb hat der Sermon vom bösen Mann Auswirkungen. Deshalb ist es nicht gleichgültig, dass wir das antimaskuline priming tagtäglich vollziehen.
Seit 200 Jahren werden Männer unter dem Verdacht ihrer »Unmoral« sozialisiert. Das hinterlässt Spuren. Und schafft Gelegenheiten. Nach mehr als einem Jahrhundert ethischer Entkernung von Männlichkeit konnten die großen Vernichtungsbewegungen des 20. Jahrhunderts, Faschismus und Stalinismus, auf einen Fundus hinreichend demoralisierter Männer zurückgreifen – zumindest solcher, die in völliger Verrohung keinen Widerspruch zur kulturellen Beschreibung ihrer selbst sahen.
Im Kleinen werden Männer bis heute zum Kalkül genötigt, wie schlecht ein Mann sein muss, um ein guter Mann zu sein. Wie viel Devianz muss er aufbringen, damit er als echter Kerl gilt? Polizisten, Staatsanwälte und Richter haben sich längst darauf spezialisiert, die jeweilige Klischeetreue von Männern und Frauen zu prämieren: »Wenn das Strafrecht ein Geschlecht hat, und bei der Strafzumessung könnte dies der Fall sein, dann privilegiert es Frauen«, schreibt die Kieler Rechtsphilosophin Monika Frommel. Der Mainzer Jura-Professor Michael Bock konstatiert, die »selektive Behandlung und Diskriminierung« von Männern werde »kulturell als durchaus normal« angesehen, löse also keine Verwunderung aus. Und er zitiert einen Polizisten, der schildert, wie nach einem Einsatz bei tätlichen Ehestreitigkeiten verfahren wird: »Natürlich nehmen wir den Mann mit.«
Kaum jedenfalls war die Idee der verworfenen Männlichkeit aufgekommen, wurden praktisch nur noch Männer bestraft, Frauen dagegen entkriminalisiert. Die Historiker Deborah Little und Malcolm Feeley sprechen vom mysteriösen und kaum erforschten »Verschwinden der Frauen« aus der Kriminalstatistik. Heute stellen Frauen nur rund fünf Prozent aller Gefängnisinsassen in Deutschland, eine weltgeschichtliche Minimalquote, in vormodernen Zeiten waren regelmäßig 30 bis 60 Prozent der Tatverdächtigen und Häftlinge weiblich. Worüber sagt unsere Gefangenenquote mehr aus: über Männer – oder über unsere Angst von der gefährlichen Männlichkeit?
Als Beate Zschäpe, Mitglied des Mordtrios Nationalsozialistischer Untergrund , im November 2011 verhaftet wurde, räsonierten etliche Kommentatoren darüber, ob eine Frau zu solchen Taten wirklich in der Lage sei. Oder ob sie nur verführt worden war – von den männlichen Tätern. Schon zu Zeiten der RAF betrachtete man die Fahndungsplakate mit den Fotos der TerroristInnen so schaudernd wie ungläubig. Frauen wurde und wird eben nicht das volle Maß moralischer Verantwortlichkeit gewährt.
So schaden das Wort von der hässlichen Männlichkeit auch den Frauen. Die geringe Neigung, Vorstandsposten und andere Top-Positionen mit Frauen zu besetzen, dürfte nicht darin begründet sein, dass Frauen fachlich schlechter sein könnten. Nein, womöglich gelten sie als moralisch zu gut. Und damit als unbegabt für jene Kaltblütigkeit, die ein Konzernchef braucht, um notfalls eine mittlere Kleinstadt von Angestellten zu entlassen.
Dabei ist diese Besorgnis unbegründet: In Russland besetzen Frauen knapp die Hälfte aller Führungspositionen, und von Verweichlichung ist dort ebenso wenig zu spüren wie in der stark feminisierten Finanzbranche Hongkongs (übrigens, liebe Ausputzfrauen, dort sind die Renditeanforderungen und Risiken so maßlos wie im Männerrudel der Deutschen Bank).
Eine wissenschaftliche Befragung von Lehrern, Sozialarbeitern, Jugendhelfern und Medizinern ergab, dass deren »Beschreibung von Männlichkeit(en)« durchgängig »latent oder ganz offen negativ bzw. mit Abwertungen versehen wurde« – und zwar in einem Ausmaß, das die Forscher Reinhard Winter und Gunter Neubauer 1998 als »erschreckend« bezeichneten. Ob die Pädagogen mit dem Düsterbild von Maskulinität eine Ausnahme bilden oder eher im Konsens liegen, blieb unerforscht.
Bekannt ist hingegen, dass Eltern ihren Söhnen ein deutlich engeres geschlechterspezifisches Verhaltenskorsett anlegen als ihren Töchtern. Die Geschlechtergrenzen würden bei Jungen viel strenger »patrouilliert«, fasst Cordelia Fine den Wissensstand zusammen, während Mädchen zum Überschreiten ihrer Grenzen »ermutigt« würden Töchter als Spielplatz-Rabauken – prima! Söhne in Ballettröckchen – wehe! Eltern verspürten bereits bei Kindergartenjungs die Notwendigkeit, deren angemessene Gender-Performance mit harter Hand zu überwachen, schreibt Fine, weil richtige Maskulinität als etwas erachtet werde, in das Arbeit investiert werden müsse.
Steckt darin der überkommene Impuls, die »gefährlicheren« Jungen an die Kandare zu nehmen? Und steckt in dieser Kandare zugleich die unterschwellige Aufforderung an den Sohn, dann bitte auch den Gefährlichen zu geben und das Problematische im Männlichen hinreichend zu inszenieren? Es soll doch kein Zweifel aufkommen an seiner Männlichkeit!
Wir wissen es nicht, weil unter diesem Blickwinkel nur lückenhaft geforscht wird. Stattdessen herrscht ein großes Zögern, auch Jungen als Produkte ihrer Umwelt zu beschreiben. Eine der renommiertesten deutschen Bildungsforscherinnen, Hannelore Faulstich-Wieland, die einige aufschlussreiche Studien veröffentlicht hat über die Interaktions-Feinheiten, die Mädchen bei den Naturwissenschaften ins Hintertreffen geraten lassen, empfiehlt, Jungen sollten sich zur Überwindung ihrer Leseschwäche schlicht mehr »anstrengen«.
Die alte Logik: Frauen werden gemacht, Männer machen. Oder sie machen eben nicht. So oder so: selbst schuld. Und seien es Erstklässler.
So könnte und wird es wohl noch weitergehen. Der Abschied vom fatalen Männlichkeitsbild steht nicht zu erwarten. Nur ein komplettes Umdenken würde dessen Ende einleiten.
Dazu gehört, überhaupt erst einmal ein soziales Sensorium zu entwickeln für die vielen offenen und versteckten Formen der männerfeindlichen Ideologie. Und es gehören Forschungen dazu, um die historische Tiefendimension auszuloten, über die wir bislang kaum etwas wissen. Als wirkungsvollster Hebel dürfte sich – bedauerlicherweise – der vordergründig böseste erweisen: die Desillusionierungsarbeit am Weiblichen vorantreiben. Dafür sorgen bereits in hohem Maße die Erfolge des Feminismus; das klingt zynisch und ist doch nicht so gemeint. Je mehr Frauen endlich in bislang versperrte Positionen vordringen, als Kanzlerin, Bankerin, Chefin, Soldatin, Müllwerkerin, umso deutlicher wird, dass die Gesellschaft dadurch zwar fairer, darüber hinaus aber nicht besser wird. Die Probleme einer modernen Gesellschaft bleiben.
Denn das Weibliche rettet nicht. Das bedeutet: Das Männliche zerstört nicht. Wir haben die Welt 200 Jahre lang so eingerichtet, dass der gegenteilige Anschein entstehen konnte. Wir dürfen uns jetzt davon lösen.
Aber erst wenn wir Frauen genauso – Verzeihung – scheiße finden wie Männer, so unmoralisch, egoistisch, verantwortungslos, kommen wir auf die Idee, keines der Geschlechter mehr mit Etiketten zu versehen. Erst wenn wir Frauen alles zutrauen, auch das Böseste, machen wir sie zu ganzen Menschen. Wenn Humanität, dann auch die dunkle Seite. Erst wenn wir Männern nicht mehr nur das Schlimmste zutrauen, machen wir sie zu ganzen Menschen. Und geben den Blick frei auf Individuen.
Gerade aus diesem Grund wäre eine Frauenquote für Vorstände empfehlenswert. Wenn Aufsichtsräte und Aktionäre ein, zwei Jahrzehnte lang sehen, dass Frauen auch nichts anders machen als Männer, können sie endlich unabhängig vom Geschlecht entscheiden: und eine kalte, rücksichtslose Frau ernennen, wenn sie das Unternehmen umkrempeln wollen; und einen sanften, verbindlichen Mann, wenn es um den Betriebsfrieden geht. Oder umgekehrt.
Erst moralische Geschlechterparität erlaubt, die jeweiligen Benachteiligungen zu betrachten, ohne dabei einem Geschlecht einen Tätervorsprung und einem anderen einen Opferbonus einzurichten. Und stattdessen nach den jeweiligen, vermutlich komplexen Ursachen zu forschen für die skandalöse Unterrepräsentation von Frauen in den Chefetagen und die skandalöse Überrepräsentation von Jungen bei Schulversagern und von Männern in Gefängnissen. Für die hohe Rate von Missbrauch bei Mädchen und die hohe Rate von Misshandlungen bei Jungen. Für die Unterbezahlung von Frauen und die übermäßigen Todesfälle von Männern durch Kriege, gefährliche Berufe und Selbstmorde.
Moralische Gleichheit würde auch verhindern, dass eine Gleichstellungsbeauftragte, wie im vergangenen Jahr in Goslar, zum Rücktritt genötigt wird, weil sie auch für die Belange von Jungen und Männern einzutreten gedachte.
So ließe sich das große Werk des Feminismus vollenden. Dessen historische Leistung, die Benachteiligungen und die Stereotype des Weiblichen zu benennen und zu bekämpfen, wird oft von einer Bekräftigung der Stereotype des Männlichen begleitet. So hat die Bewegung es versäumt, eine andere Geschichte der Männlichkeit zu erzählen als jene, die um 1800 auf den Weg gebracht worden ist. Nun gilt es, mit dem Feminismus über ihn hinauszugehen, um auch das männliche Verhängnis des modernen Geschlechterdenkens zu enttarnen.
Man mache sich nichts vor: Der Widerstand gegen die ethische Waffengleichheit dürfte gewaltig sein. Es steht so viel auf dem Spiel. Die Gesellschaft müsste ihren Moralhaushalt neu organisieren. Die vage Reservemoralität, die wir im Weiblichkeits-Stereotyp bunkern, wäre obsolet. Die tröstliche Gewissheit, dass, wie schlimm es auch immer komme, die Ausputz- und Trümmerfrauen parat stehen, um den ganzen Mist der Männer zu beseitigen – sie müsste zerbröckeln. Und würde uns vermutlich fehlen. Bis wir so weit sind, diese Geschlechterlogik zu kippen, also übergangsweise, können wir uns mit der ältesten Kulturtechnik der Befreiung behelfen: mit dem Lachen.
Wenn eine machtbewusste Politikerin wie die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft Sätze wie diese äußert: »Wir Frauen sind einfach pragmatischer. Männer fürchten eher, in Konflikten ihr Gesicht zu verlieren. Das ist weniger ein Frauenthema. Wir nehmen uns selbst nicht so wichtig« – einfach lachen. Herzhaft, aus vollem Halse.
Wenn ein renommierter Wissenschaftler wie der Oxforder Psychiater Simon Baron-Cohen schreibt: »Das männliche Gehirn ist so ›verdrahtet‹, dass es überwiegend auf das Begreifen und den Aufbau von Systemen ausgerichtet ist«, was Männer zu besseren Anführern, Wissenschaftlern und Kriegern mache – dröhnend lachen, aus federndem Zwerchfell.
Lachen.
Weil es lachhaft ist.
Christoph Kucklick