Im Münchner Spatenhaus begrüßt man ihn mit Freude und sichtbarem
Respekt und rückt ihm den Stuhl zurecht: Hier und heute Abend sitzt
Michael Wolffsohn bequem. Normalerweise hält er sich eher zwischen den
Stühlen auf, das ist weniger angenehm, erst recht, wenn man eine derart
schmale Silhouette hat. Und doch balanciert er dort seit Jahren. Es gibt
viele, die ihn dafür bewundern. Es gibt weit mehr, die ihn dafür
hassen.
Wer ihn persönlich erlebt, versteht die
Abneigung nicht: Der Herr Professor ist kein akademischer Langweiler,
sondern ein weltgewandter und feinfühliger Citoyen mit Charme und Humor.
Außerdem sieht er verdammt gut aus. Und er gibt sich, ganz wie seine
Frau Rita, keineswegs so erwachsen, wie es sich angeblich gehört, wenn
man 65 und seit ein paar Monaten emeritiert ist. Der Abend ist heiter.
Kaum eine Frage bleibt offen. Nur eine: Wie schafft es so jemand, sich
mit beinahe allen anzulegen, die nicht nur in Deutschland eine
öffentliche Rolle spielen?
Dass die Rechtsradikalen ihn
nicht lieben – geschenkt. Dort mag man in alter Tradition keine Juden,
und vor allem keine, die, als Professor an der Bundeswehruniversität in
München, deutsche Offiziere mit Zionismus infizieren oder sonstwie
verderben könnten. Der rechte Hass lässt sich von medialem
Jagdgeschmetter befeuern, kulminiert immer wieder in antisemitischen
Morddrohungen und beschert der Familie Wolffsohn in ihrem Münchner Haus
seit Jahren Polizeischutz.
Das müsste die Linke auf
seine Seite bringen? Ganz im Gegenteil. Einmal deshalb, weil Wolffsohn
nunmal kein Linker ist. Als er 1970 zum 1967 unterbrochenen Studium an
die Berliner Freie Universität zurückkehrte, erlebte er Mao-Bibel
schwenkende Studenten, die den eminenten Politikwissenschaftler Richard
Löwenthal, den 1935 vor den Nazis geflohenen Juden, einst Kommunist,
später Sozialdemokrat, als Nazi beschimpften. Wolffsohn aber wollte
studieren und nicht über Maos Kulturrevolution diskutieren. Irgendwann
schloss er sich wie Löwenthal und Fraenkel der „Notgemeinschaft für eine
freie Universität“ und dem „Bund Freiheit der Wissenschaft“ an. Dort
lernte er Rita Braun-Feldweg kennen, die beiden sind seit 1975
verheiratet. Er dunkel, sie blond, beide schmal und schnell und
scharfzüngig. Eine tiefe Beziehung, man sieht und hört das.
Ach, die Linke und Richard Löwenthal: auch das so ein Missverständnis,
das man heute kaum noch nachvollziehen kann. Was war an Löwenthal und
Fraenkel reaktionär, den jüdischen Linksliberalen, antitotalitär aus
Erfahrung mit Nationalsozialismus und Kommunismus zugleich? Und was
attraktiv an den studentischen Ideologen, diesen Sektierern der 70er
Jahre, die alles niederbrüllten, was nicht ihrer Meinung war? Doch
damals war klar: wer zum „Bund Freiheit der Wissenschaft“ hielt, war
rechter als rechts. Dabei war doch nur der linke Verstand bei vielen
besonders kurz.
Und dann auch noch das: der Streber
Wolffsohn hatte gedient, freiwillig, drei Jahre lang. Nicht in der
Bundeswehr, immerhin – damals bevorzugten viele Studenten Berlin, weil
ein Wohnsitz dort ihnen den Wehrdienst ersparte. Dafür aber in der
israelischen Armee, zu einer Zeit, als man dort jeden Mann brauchte:
nach dem Sechstagekrieg 1967, als Ägypten den Israelis einen
Zermürbungskrieg am Suezkanal lieferte. Doch während Wolffsohn der Sache
Israels diente, jubelte einer wie Joschka Fischer im Oktober 1969 auf
einem Palästina-Solidaritätskongress in Algier Jassir Arafat zu, der den
„Endsieg“ über Israel anstrebte. Das beschreibt in etwa die Spannweite
der Gegensätze. Der Antizionismus in der studentischen Linken war, wie
wir heute wissen, weit übler als eine lässliche Jugendsünde.
Es liegt nicht am Wein, dass das Bild immer verworrener wird. Wer
war, wer ist Michael Wolffsohn in den Augen der Öffentlichkeit? Ein
Zionist, glauben einige, andere meinen, als Jude könne er kein richtiger
Deutscher sein. Irgendwie. Aber womöglich ist er gar ein Nazi?
Irgendwie wohl auch. Hatte ihn nicht Ignatz Bubis 1992 als
„Vorzeige-Juden der deutschen Rechtsradikalen“ bezeichnet? Dann durfte
einer wie Friedrich Küppersbusch das auch, der 1995 in einer gottlob
längst vergessenen WDR-Fernsehsendung namens „ZAK“ das Konterfei
Wolffsohns mitten ins Hakenkreuz der Reichskriegsflagge montierte,
gegengeblendet Aufnahmen von Neonazis beim Sturm auf das
Asylbewerberheim in Rostock. Ich erinnere mich gut an die Sendung, es
war zum Fremdschämen.
Doch hatte nicht auch das dieser
Wolffsohn – irgendwie - selbst verschuldet? Wer sich als
deutsch-jüdischer Patriot bezeichnet, muss mit den Schlimmsten rechnen.
Das geht gar nicht. Nicht bei den Deutschen. Aber auch nicht bei den
Juden in Deutschland. Und erst recht nicht bei den Israelis. Eigentlich –
bei niemandem.
Sitzen Sie gut zwischen den Stühlen, Herr Wolffsohn?
Mit Deutschland, finden die einen, geht Wolffsohn viel zu freundlich
um. Den Juden in aller Welt und Israel aber erspart er nichts. Stimmt
schon: er hat so gar nichts übrig für die „Amtsjuden“ und
„Synagogengänger“, für die Funktionäre des Zentralrats der Juden in
Deutschland etwa, die sofort mit Exodus drohen, wenn über die
Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Beschneidung kleiner Jungen auch
nur diskutiert wird. Oder für den Präsidenten des Jüdischen
Weltkongresses, Edgar Bronfman, der sich noch bis kurz vor ihrem Ende
bei der DDR beliebt machte. Er mag den „Gemeindemief“ nicht und die
jüdische „Folklore“. Er spottet über angemaßte Juden wie Gregor Gysi
oder Markus Wolf. Und ein bisschen auch über die Beliebtheit jüdischer
Vornamen für die Kinder nichtjüdischer deutscher Eltern.
Ebenso wenig hält er von harschen Marschbefehlen aus Israel, wonach das
„entartete“ deutsche Judentum „aufzulösen“ sei und alle Juden nach
Israel, in die jüdische „Einheitsfront“, gehörten. Doch solche Töne sind
vorbei. In Israel respektiert man ihn: ja, er ist ein Diasporajude.
Aber er hat drei Jahre freiwillig in der israelischen Armee gedient,
nicht ohne Risiko fürs eigene Leben. Das zählt dort.
Dennoch besteht Wolffsohn darauf: weder (das existentiell gleichwohl so
notwendige) Israel noch sonstwer repräsentiere die Juden in der Welt.
Auch nicht das, was sich „jüdische Gemeinde“ oder „Zentralrat“ nennt –
dass der für alle jüdischen Deutschen zuständig sei, glaubten nur die
nichtjüdischen Deutschen, wo noch immer die Meinung grassiert, Juden
seien eine verschworene Gemeinschaft, in der alle eisern zusammenhalten.
Nebbich. Ebenso wenig sind alle Juden, als „die Opfer“, engelsgleiche
Wesen. Das verachtet Wolffsohn: jedwede Sonderbehandlung, auch wenn sie
mit besten Absichten geschieht. „Toleranz auch für die dummen Juden!“ Es
gibt sie, wie überall. Na und? Na und.
Wolffsohn will
Normalität. Aber die kriegt er nicht. Ist er denn überhaupt ein
richtiger Jude? Dieser Nestbeschmutzer? Der eine Evangelische geheiratet
hat, die er noch nicht einmal zum Konvertieren hat überreden wollen?
Die Gänsekeule kommt. Weder im Spatenhaus noch bei Wolffsohns wird
koscher gegessen, warum auch? Die wenigsten Diasporajuden tun das. Und
die wenigsten Juden heiraten Juden. Rita und Michael führen eine
Mischehe, wie gut zwei Drittel der Juden in Deutschland. Doch das ist
Teil eines Problems: dass nämlich die Juden immer weniger werden.
Wenn man Rita und Michael Wolffsohn lachend über ihre Hochzeit sprechen
hört, hat man das Gefühl, der Tag habe nur ein Thema gehabt: die
inständigen Bitten von Freunden und Verwandten, Rita, die Gojte, möge
doch bitte schnell noch zum Judentum konvertieren. Sie tat es nie. Und
deshalb sind die drei Kinder der Wolffsohns dem Judentum entzogen – denn
Jude ist nur, wer eine jüdische Mutter hat, wobei es nicht auf Blut und
Gene ankommt, sondern auf die Religion.
Das ist so
ein Moment, an dem Michael Wolffsohn bedrückt wirkt. Es ist doch eine
schwindende Gemeinschaft, die Juden der Welt und die in Deutschland. Und
er ist ja doch beides: Jude und Deutscher. Obwohl Diasporajuden ohne
Religion eigentlich keine sind. Sagt er, dem Stammesdenken nunmal fremd
ist. Das ist wohl die Paradoxie seines Lebens.
Wolffsohn hat ein Lebensthema, natürlich, unübersehbar. Nicht jenes,
das Henryk Broder hat, der auf Antisemitismus geeichte Spürhund. Eher im
Gegenteil. Michael Wolffsohn kämpft für etwas, das es nicht gibt:
dafür, dass einer wie er so normal ist wie sich die meisten jüdischen
Deutschen im Deutschen Reich bis Hitler fühlten. Doch das jüdische
Großbürgertum hat sich diese Normalität womöglich nur eingebildet. Dass
Hitler auch die zu Juden erklärte, die sich selbst gar nicht mehr so
verstanden, hat Juden auf immer zu Juden gemacht. Sich dagegen zu wehren
kommt der Arbeit des Sisyphos gleich.
Doch Wolffsohn
rollt den Stein immer wieder hoch. Antisemitismus ist das eine. Die
Funktionalisierung des Holocaust aber ist nicht minder unangenehm.
Wolffsohns Augenmerk gilt der „Geschichtspolitik“, ein Begriff, den er
in die Debatte eingebracht hat. Gemeint ist, dass hinter fast jeder
Geste und jedem Gedenken im öffentlichen Raum handfeste Interessen
stehen. Auch Willy Brandts Kniefall in Warschau war Geschichtspolitik:
die große Geste sollte Israel beruhigen, dem die „neue Ostpolitik“ der
sozialliberalen Koalition nicht schmeckte. Der Mehrwert: ab da konnte
man in der SPD Israel tagespolitisch kritisieren, ohne
geschichtspolitisch als Relativierer dazustehen.
Und so
wird aus Vergangenheit eine Krücke für die Gegenwart. Die Deutschen
hätscheln jemanden wie Jonah Goldhagen, der ihnen bescheinigt, sozusagen
genetisch bedingt „eliminatorische Antisemiten“ zu sein? Der Mehrwert
solchen Masochismus’ heißt: man kann sich macht- und außenpolitisch
raushalten. Für die Juden in der Diaspora, insbesondere in den USA, ist
der Holocaust als Bindemittel an die Stelle der Religion getreten?
Praktisch, dann muss man nicht groß darüber nachdenken, was das eigene
Jüdischsein noch bedeutet, sobald es nicht mehr religiös definiert ist.
Und Israel? Die Zionisten haben nicht auf Hitler gewartet, um in
Palästina zu siedeln. Doch heute ist auch dort der Holocaust zum
einigenden Zusammenhang geworden. Und in Deutschland, dem „Land der
Täter“, fühlt man sich am Schicksal der Palästinenser gleich noch mit
schuld. Weil es ja ohne Hitler kein Israel und damit auch keinen
Konflikt gegeben hätte ...
Unsinn. Am Grunde des
Konflikts, so sieht es auch Wolffsohn, liegt die verfehlte britische
Mandatspolitik in Palästina weit vor Hitler, die wahrlich nicht
judenfreundlich war. Auch im Zweiten Weltkrieg sahen weder Engländer
noch Amerikaner die Rettung der Juden als Hauptsache. Doch darüber zu
diskutieren verbietet – Geschichtspolitik. Kein Wunder also, dass
Wolffsohn aneckt, der nur in einer Hinsicht Fanatiker ist: wenn es um
die Wahrheit geht.
Wir sind beim Schnaps und fast die letzten im Lokal. Seit Wolffsohn
emeritiert ist, kann man ihm erst recht nicht mehr das Maul verbieten,
wie es deutsche Kollegen und Politiker gleich zweimal versuchten, als
sie seine Amtsenthebung betrieben. Es gibt wissenschaftliche Projekte,
er geht schwanger, sagt er, mit einer (welt-)historischen Einordnung der
Bundesrepublik Deutschland. Und vielleicht fügt er den bislang 30
Büchern und 132 wissenschaftlichen Aufsätzen auch noch eine
Familiengeschichte plus Autobiografie hinzu. Außerdem berät er Politiker
und Unternehmer, meistens über den Nahen Osten, die deutsche
Außenpolitik, weltpolitische Entwicklungen und natürlich
„Geschichtspolitik“.
Gut, dass sich um die „Gartenstadt
Atlantic“ vor allem Rita Wolffsohn kümmert. Die Familie hat ihr
gesamtes Vermögen in die Rettung eines jüdischen „Vermächtnisses“
gesteckt, nämlich in die vorbildhafte Restaurierung einer Wohnanlage im
Berliner Problembezirk „Gesundbrunnen“, deren Herzstück einst die
„Lichtburg“ war, jenes Ende der 20er Jahre gegründete Großkino. Das
alles gehörte Karl Wolffsohn – bis zur Arisierung. Wolffsohn konnte
flüchten, kehrte 1949 zurück und musste zwölf Jahre lang um die Anlage
prozessieren. Seinen Sieg erlebte er nicht mehr. Und das Kino hat der
Westberliner Senat 1970 abreißen lassen.
Die
Geschichte der „Gartenstadt Atlantic“ ist ein Kapitel für sich. Es ist
die Geschichte, auch, eines handfesten, uneitlen Mäzenatentums einer
ganzen Familie.
Auch das noch: Michael Wolffsohn ein
Mäzen, der ein jüdisches Erbe für Deutschland bewahrt hat. Das soll ihm
mal einer verzeihen können.