"Wir stehen vor einer Schicksalsfrage "
Wie sollen und müssen Demenzkranke versorgt werden? Darüber diskutiert der Bundestag wie auch der Pflegebeirat der Regierung, der heute seinen Bericht vorlegt. Pflegeexperte Claus Fussek kritisiert bei tagesschau.de eine "jahrzehntelange beschämende Diskussion".
tagesschau.de: Die Politik streitet über die Zukunft der Pflege, vor allem über die Frage, ob Demenzkranke verstärkt Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen können. Wie müsste "Pflege" definiert werden, um den Bedürfnissen dieser Menschen gerecht zu werden?
Claus Fussek: Die Frage nach einer Definition von Pflege ist schon falsch. Da gibt es nichts zu definieren, genau so wenig wie in den Bereichen Kinderkrippen oder Betreuungsgeld. Demenzkranke brauchen einfach Zeit, brauchen jemanden, der sich um sie kümmert. Das kann eigentlich nicht so schwer sein. Die beschämende Diskussion hierzulande dauert ja nur deswegen so lange, weil es ums Geld geht und um den Gedanken im Hinterkopf: Die Alten sind uns zu teuer.
Dabei steht die Nation in Sachen Pflege vor einer Schicksalsfrage. Demenz und Alzheimer sind Volkskrankheiten. Kaum eine Familie wird nicht davon betroffen sein, sei es durch die Erkrankung an sich oder als pflegende Angehörige. Wir müssen eine gesamtgesellschaftliche Lösung finden, um diese Familien zu entlasten. Und um die Versorgung bezahlbar zu machen.
Zur Person
Claus Fussek, Jahrgang 1953, gilt als einer der bekanntesten Pflegeexperten Deutschlands. Der Diplom-Sozialpädagoge ist Mitglied im Leitungsteam des ambulanten Pflegedienstes "Vereinigung Integrationsförderung" und Autor zahlreicher Bücher. Das neueste mit dem Titel "Es ist genug" fordert die Rechte alter Menschen ein.
Keine Luxusdebatte
tagesschau.de: Lässt sich eine solche Pflege über die bisherige Form der Pflegeversicherung finanzieren? Viele befürchten ja eine Kostenexplosion, wenn die Pflegeversicherung jetzt für mehr Demenzkranke zahlt.
Fussek: Wenn die Pflege nicht zu bezahlen ist, dann muss man den Alten und Pflegebedürftigen halt sagen, dass sie zu viele sind... Nein, im Ernst: Wir können nicht in einer Gesellschaft leben, die sich gerne "christlich" und "solidarisch" nennt und uns darüber keine Gedanken machen. Wir wissen, dass immer mehr Menschen immer länger leben, auch des medizinischen Fortschritts wegen. Wir sind - angeblich - gegen aktive Sterbehilfe.
Wenn das alles so ist, dann müssen die Überlebenden finanziert werden. Das ist keine Luxusdebatte. Wir reden über die Finanzierung von Grund- und Menschenrechten. Wir reden über die Familie als den preisgünstigsten Pflegedienst der Nation, der sich weiter kümmern können soll, ohne zusammenzubrechen.
tagesschau.de: Der erweiterte Pflegebegriff steht ja schon lange zur Debatte. Sehen Sie allmählich einen Fortschritt?
Fussek: Nein, im Gegenteil. Diskutiert wird ja seit der Einführung der Pflegeversicherung 1995. Von daher würde ich dieses Gesetzesvorhaben als das langwierigste überhaupt für das Guinessbuch der Rekorde vorschlagen. Aber bereits bei Einführung war klar, dass man vor allem die Beitragsstabilität im Hinterkopf hatte. Deswegen nahm man damals bereits einen Personenkreis von etwas 500.000 Menschen aus der Pflegeversicherung heraus, indem man für die Pflegestufe I eine erhebliche Pflegebedürftigkeit mit einem Hilfebedarf von 90 Minuten pro Tag voraussetzt - aus rein finanziellen Gründen! Ursprünglich war ein Hilfebedarf von 60 Minuten vorgesehen gewesen. Gleichzeitig hieß es immer, diese Regelung sei ja nur der Einstieg und man würde "bald nachbessern". Jetzt, also im Jahr 2013, diskutieren die sogenannten Experten immer noch, ob wir uns die alten dementen Menschen noch leisten können.
Die Angst vor der eigenen Hilfslosigkeit
tagesschau.de: Warum tun sich Politik wie Gesellschaft so schwer?
Fussek: Das ist eine gute Frage, denn eigentlich sind sich ja alle einig. Niemand in Deutschland ist für schlechte Pflege. Niemand in Deutschland will nach Minuten gepflegt werden, und das in einem Doppelzimmer in einem Pflegeheim. Trotzdem passiert nichts, und zwar in keiner Partei. Das lässt sich nur mit kollektiver Verdrängung erklären, die auch den Wahlkampf bestimmen wird. Auch da sehe ich nicht die Spur einer Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Pflege war noch nie Wahlkampfthema. Ich habe noch nie ein großes Plakat von irgendeiner Partei, ob links oder rechts, ob Regierung oder Opposition, gesehen, das sich mit diesem Thema befasst. Dazu kommt, dass die Gesellschaft die Auseinandersetzung auch nicht einfordert, obwohl es ein gesamtgesellschaftliches Thema ist. Die Diskussion um den Pflegebegriff geht an den Menschen vorbei. Da engagieren wir uns mehr fürs Dosenpfand.
tagesschau.de: Ist das die Angst vor der eigenen Hilfslosigkeit?
Fussek: Mit Sicherheit. Wir beobachten das ja auch bei der Diskussion übers Klima oder, jetzt aktuell, übers Hochwasser, dass uns solche Themen entgleiten. Das ist auch bei der Pflege der Fall. Wir haben so viele alte Menschen, dass wir nicht mehr wissen, wie wir sie versorgen sollen. Mehr als 100.000 Frauen aus Osteuropa sind bereits jetzt in der häuslichen Pflege legal oder halblegal tätig. Dafür schämt sich niemand. Dabei müssten wir zum Beispiel die Tagespflege ausbauen. Unter Umständen ist auch mehr private Vorsorge nötig, weil die Politik eben nicht reagiert.
Das Interview führte Ute Welty, tagessschau.de