Demokratie

Demokratie ist, wenn sich zwei Wölfe und ein Schaf am Tag
darüber unterhalten, was es am Abend zum Essen gibt.


Thomas Jefferson


Wissenschaft im Dienst der Ideologie

Von Tritium

Die Suche nach Erkenntnis

‘Wissenschaft’, insbesonders die Naturwissenschaften, hat einen bemerkenswerten Ruf; Wissenschaftler gelten als logisch, neutral, der Wahrheit verpflichtet und selbstkritisch. Das sind sie auch in den meisten Fällen, ganz in der Tradition der Aufklärung, die fordert:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Immanuel Kant

Doch wie jedes Idealbild ist auch dieses unerreichbar. Tatsächlich wurde Wissenschaft immer wieder missbraucht und tatsächlich unterwarfen sich Wissenschaftler immer wieder der Leitung von Ideologen oder missbrauchten ihre wissenschaftliche Reputation um eine politisch-ideologische Karriere zu machen.

Die Karriere des Trofim Lyssenko

Wir werden angegriffen!

" ... Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. ...
Warum sollte irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt.
Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Russland, noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt.
... das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr.
Diese Methode funktioniert in jedem Land."

Herrmann Göring

Nachrichten sind ungesund

Nachrichten sind schlecht für dich – und sie nicht mehr lesen macht dich fröhlicher 

Nachrichten sind schlecht für deine Gesundheit. Sie erzeugen Angst und Aggressivität und beeinträchtigen deine Kreativität und Denkfähigkeit. Die Lösung? Hör auf, sie zu konsumieren.
Von den 10.000 Nachrichten, die du in letzten 12 Monaten gelesen hast - hat auch nur eine dir eine bessere Entscheidung in einer ernsthaften Angelegenheit deines Lebens ermöglicht?

In den letzten Jahrzehnten haben die Glücklichen unter uns die Gefahren des Lebens mit einem Überangebot an Nahrung (Fettleibigkeit, Diabetes) erkannt und begonnen, unsere Ernährung zu ändern. Doch die meisten von uns verstehen noch nicht, dass Nachrichten für den Verstand das sind, was Zucker für den Körper ist. Nachrichten sind leicht zu verdauen, Die Medien füttern uns mit kleinen Stückchen trivialer Informationen, mit Häppchen, die nicht wirklich unser Leben betreffen und kein Nachdenken erfordern. Deswegen verspüren wir keine Sättigung. Im Gegensatz zum Lesen von Büchern oder langen Artikeln (was Denken erfordert) können wir unendlich große Mengen an Nachrichten schlucken, die farbenfrohe Süßigkeiten für unseren Verstand sind. Heute haben wir inbezug auf Informationen den Stand erreicht, den wir vor 20 Jahren bei Nahrungsmittel hatten. Wir beginnen zu spüren, wie giftig Nachrichten sein können. 

Nachrichten führen in die Irre. Nimm das folgende Ereignis (geliehen von Nassim Taleb): Ein Auto fährt über eine Brücke und die Brücke stürzt ein. Worauf konzentrieren sich die Nachrichtenmedien? Das Auto. Die Person im Auto. Woher sie kam. Wohin sie wollte. Wie sie den Unfall erlebte (falls sie überlebte). Doch das ist alles unwichtig. Was ist wichtig? Die Tragsicherheit der Brücke. Dies ist das zugrunde liegende Risiko, das hier lauerte und in anderen Brücken lauern könnte. Doch das Auto ist schick, es ist dramatisch, es ist eine Person (nicht abstrakt), und es ist eine Nachricht, die billig produziert werden kann. Nachrichten lassen uns mit einem völlig falschen Risikoempfinden herumlaufen. So ist Terrorismus überbewertet. Chronischer Stress ist unterbewertet. Der Zusammenbruch der Lehman Brothers Bank ist überbewertet. Unverantwortliche Finanzpolitik ist unterbewertet. Astronauten sind überbewertet. Krankenschwestern sind unterbewertet.

Wir sind nicht rational genug, um der Presse ausgesetzt zu sein. Einen Flugzeugabsturz im Fernsehen zu sehen, wird unsere Wahrnehmung dieses Risikos ändern, unabhängig von seiner tatsächlichen Wahrscheinlichkeit. Wenn du denkst, du könntest das ausgleichen kraft deines inneren Kompasses, liegst du falsch. Bankiers und Ökonomen – die mächtige Anreize haben, Nachrichten-Fallen auszugleichen – haben gezeigt, dass sie es nicht können. Die einzige Lösung: koppel dich ab vom Nachrichten-Konsum.

Nachrichten sind irrelevant. Von den 10.000 Nachrichten, die du in letzten 12 Monaten gelesen hast nenne eine, die – weil du sie konsumiert hast – dir eine bessere Entscheidung in einer ernsthaften Angelegenheit deines Lebens, deiner Karriere oder deiner Geschäfte ermöglicht hat. Der Punkt ist: der Konsum von Nachrichten ist irrelevant für dich. Doch Menschen haben es schwer, zu erkennen, was relevant ist. Es ist viel einfacher, zu erkennen, was neu ist. Das Relevante versus das Neue ist die fundamentale Schlacht der Gegenwart. Medienunternehmen wollen dich glauben machen, dass Nachrichten eine Art Wettbewerbsvorteil bieten. Viele fallen darauf herein. Wir sind verunsichert, wenn wir vom Nachrichtenfluss abgeschnitten sind. In Wirklichkeit ist Nachrichten-Konsum ein Wettbewerbsnachteil. Je weniger Nachrichten du konsumierst, desto größer ist dein Vorteil. 

Nachrichten haben keine Erklärungskraft. Nachrichten sind Blasen, die an der Oberfläche einer tieferen Welt zerplatzen. Wird das Ansammeln von Fakten dir helfen, die Welt zu verstehen? Traurigerweise nein. Der Zusammenhang ist umgekehrt. Die wichtigen Stories sind gar keine: langsame, mächtige Entwicklungen, unterhalb des Radars der Journalisten, aber mit umwälzenden Auswirkungen. Je mehr Nachrichten-Fakten du verdaust, desto weniger wirst du das Große Ganze verstehen. Wenn mehr Informationen zu größerem wirtschaftlichen Erfolg führen würden, sollte man annehmen, dass Journalisten an der Spitze sind. Das ist nicht der Fall.

Nachrichten sind giftig für deinen Körper. Sie lösen ständig das Limbische System aus. Beunruhigende Stories kurbeln die Ausschüttung von Glucocorticoiden (Cortisol) an. Dies dereguliert dein Immunsystem und hemmt die Abgabe von Wachstumshormonen. Mit anderen Worten, dein Körper steht chronisch unter Stress. Hohe Glucocorticoid-Spiegel verursachen beeinträchtigte Verdauung, Wachstumsmangel (Zellen, Haare, Knochen), Nervosität und Infektanfälligkeit. Weitere potentielle Nebenwirkungen sind Angstzustände, Aggressivität, Blickverengung und Desensibilisierung.

Nachrichten verstärken Wahrnehmungsfehler. Nachrichten verstärken die Mutter aller Wahrnehmungsfehler: Wahrnehmungsvoreingenommenheit (confirmation bias). Mit den Worten von Warren Buffett: "Was der Mensch am besten kann, ist alle neuen Informationen so zu interpretieren, dass seine früheren Schlussfolgerungen intakt bleiben." Nachrichten verschärfen diese Schwäche. Wir werden anfällig für Selbstüberschätzung, gehen dumme Risiken ein und schätzen Möglichkeiten falsch ein. Sie verschärfen außerdem einen anderen Wahrnehmungsfehler: den 'Story bias'. Unser Gehirn sehnt sich nach Geschichten, die einen Sinn ergeben – auch, wenn diese nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Jeder Journalist, der schreibt "Der Markt veränderte sich wegen X" oder "das Unternehmen ist pleite wegen Y" ist ein Idiot. Ich hab genug von dieser billigen Art, die Welt zu "erklären".

Nachrichten hemmen das Denken. Nachdenken erfordert Konzentration. Konzentration erfordert ungestörte Zeit. News pieces are specifically engineered to interrupt you. They are like viruses that steal attention for their own purposes. News makes us shallow thinkers. But it's worse than that. News severely affects memory. There are two types of memory. Long-range memory's capacity is nearly infinite, but working memory is limited to a certain amount of slippery data. The path from short-term to long-term memory is a choke-point in the brain, but anything you want to understand must pass through it. If this passageway is disrupted, nothing gets through. Because news disrupts concentration, it weakens comprehension. Online news has an even worse impact. In a 2001 study two scholars in Canada showed that comprehension declines as the number of hyperlinks in a document increases. Why? Because whenever a link appears, your brain has to at least make the choice not to click, which in itself is distracting. News is an intentional interruption system.

News works like a drug. As stories develop, we want to know how they continue. With hundreds of arbitrary storylines in our heads, this craving is increasingly compelling and hard to ignore. Scientists used to think that the dense connections formed among the 100 billion neurons inside our skulls were largely fixed by the time we reached adulthood. Today we know that this is not the case. Nerve cells routinely break old connections and form new ones. The more news we consume, the more we exercise the neural circuits devoted to skimming and multitasking while ignoring those used for reading deeply and thinking with profound focus. Most news consumers – even if they used to be avid book readers – have lost the ability to absorb lengthy articles or books. After four, five pages they get tired, their concentration vanishes, they become restless. It's not because they got older or their schedules became more onerous. It's because the physical structure of their brains has changed.

News wastes time. If you read the newspaper for 15 minutes each morning, then check the news for 15 minutes during lunch and 15 minutes before you go to bed, then add five minutes here and there when you're at work, then count distraction and refocusing time, you will lose at least half a day every week. Information is no longer a scarce commodity. But attention is. You are not that irresponsible with your money, reputation or health. Why give away your mind?

News makes us passive. News stories are overwhelmingly about things you cannot influence. The daily repetition of news about things we can't act upon makes us passive. It grinds us down until we adopt a worldview that is pessimistic, desensitised, sarcastic and fatalistic. The scientific term is "learned helplessness". It's a bit of a stretch, but I would not be surprised if news consumption, at least partially contributes to the widespread disease of depression.

News kills creativity. Finally, things we already know limit our creativity. This is one reason that mathematicians, novelists, composers and entrepreneurs often produce their most creative works at a young age. Their brains enjoy a wide, uninhabited space that emboldens them to come up with and pursue novel ideas. I don't know a single truly creative mind who is a news junkie – not a writer, not a composer, mathematician, physician, scientist, musician, designer, architect or painter. On the other hand, I know a bunch of viciously uncreative minds who consume news like drugs. If you want to come up with old solutions, read news. If you are looking for new solutions, don't.

Society needs journalism – but in a different way. Investigative journalism is always relevant. We need reporting that polices our institutions and uncovers truth. But important findings don't have to arrive in the form of news. Long journal articles and in-depth books are good, too.

I have now gone without news for four years, so I can see, feel and report the effects of this freedom first-hand: less disruption, less anxiety, deeper thinking, more time, more insights. It's not easy, but it's worth it.

--- Originaltext ---

Das süße Gift der Wahlversprechen

Die Union verspricht Wohltaten für 30 Milliarden, die SPD klotzt mit einem 80-Milliarden-Wahlversprechen und die Linke verheißt gar 160 Milliarden. Die Politik verwechselt Wahlen mit Weihnachten – eine fatale Entwicklung.

Wahlgeschenke sind nichts anderes als die Bestechung der Wähler mit ihrem eigenem Geld. Wähler wissen das. Sie wollen darum keine wilden Wahlversprechen, sondern eine seriöse Politik mit soliden Staatsfinanzen - in Anbetracht der Schuldenkrise zumal. Deutschlands Parteien aber tun in diesem Sommer so als wolle das Wahlvolk bloß den Wühltisch der Wohltaten, als sei Jahrmarkt und Weihnachten auf einmal. Sie werfen mit milliardenschweren Ausgabenprogrammen um sich wie Freibierschreier und Schiffschaukelbremser des Politischen. Es breitet sich ein wahlkämpferischer Bratapfeldunst aus über diesen Wahlkampf, der einen zweifeln läßt, ob Deutschland wirklich noch der Stabilitätsanker in Europa bleiben kann.

Im großen Versprechenskarussell der Rundum-sorglos-Republik ist für jeden etwas dabei: Die CDU verspricht mehr Renten für Mütter, mehr Geld für Kinder, Milliarden für Straßen, WLAN für alle. Rund 30 Milliarden Euro kostet das neue All-inclusive-Paket der Union. Im Vergleich zur SPD ist das freilich noch schwäbisch sparsam. Denn die Sozialdemokraten verkünden seit dieser Woche die 80-Milliarden-Geschenk-Kanone. Vom Ausbau der Stromnetze über neue Schulen und Wohnungen bis zum Breitbandinternet werden blühende Landschaften versprochen: „Deutschland braucht einen Modernisierungsschub durch eine Investitionsoffensive“, verkündet Steinbrück als sei er der Osterhase und der Nikolaus in Personalunion.

Doch selbst das SPD-Schlarraffia ist noch Biedermeier im Vergleich zu den Heilsversprechen der Linkspartei. Deren Wahlprogramm von Mindestlöhnen, Mindestrenten bis mehr Hartz IV würde sogar 160 Milliarden zusätzlich kosten -und zwar jährlich!

Wenn nun die Grünen morgen ein Füllhorn mit Fantastilliarden ausschütten wollten, wir würden es mittlerweile für normal halten. Die Normalität der Milliarden-Monopolys fauler Versprechen hat die Staatsverschuldung Deutschlands auf inzwischen 2086 Milliarden Euro steigen lassen – jede Sekunde kommen 870 Euro hinzu. Europas Schuldtürme sind inzwischen so gewaltig, dass sie wanken und unser gesamtes Währungsystem unter sich zu begraben drohen. Zur Dimension der deutschen Staatsverschuldung stelle man sich einmal vor: Ab sofort würden keine Schulden mehr aufgenommen und die öffentliche Hand gesetzlich verpflichtet, neben allen anderen Ausgaben jeden Monat eine Milliarde Euro an Schulden zu tilgen. Mit dieser Verpflichtung würde es bis ins Jahr 2186 dauern, um den Schuldenberg Deutschlands abzutragen. Aber dazu wird es nicht kommen, denn es liegen ja ausreichend teure, neue Wahlversprechen vor. Für jeden wird etwas ins große Berliner Schaufenster gelegt. Nur das Preisschild fehlt - wie immer.

Diese Art von Politik degradiert die Republik zu einem Gefälligkeitsstaat oder, wie der Sozialökonom Günter Schmölders einmal schrieb, zu einer “Entnahmegesellschaft mit beschränkter Haftung”. Sie zwingt die Demokratie in einen unwürdigen wie gefährlichen Teufelskreislauf von Wahlversprechen, Anspruchsverhalten und kreditfinanziertem Wohlfahrtsstaat, der irgendwann an seinen Schulden kollabiert. Fremdfinanzierte Wahlversprechen sind zu Politik gewordener Paternalismus, sie machen Bürger letztlich zu Untertanen des Sozial- und Schuldenstaates. Dabei ist die Sache ganz einfach: Nur stabile Staatsfinanzen sind soziale Staatsfinanzen. Wer verspricht uns das?

 

Dr. Wolfram Weimer

Appetit: die moderne Erbsünde

Diäten hält er für Gewalt und essen soll man, worauf man Lust hat. Im Interview zerlegt der Lebensmittelchemiker Udo Pollmer den Glauben an die eine, gesunde Ernährung.

Hört er Ernährungsratschläge, nimmt Udo Pollmer sofort Reißaus.

Frage: Herr Pollmer, ihrer Ansicht nach sind die drei folgenden Aussagen kompletter Unfug: Vitamin C hilft bei Erkältungen, Salz ist ungesund und der Verzehr von Obst und Gemüse beugt Krebserkrankungen vor. Ist das Verhältnis zu Ihrem Hausarzt soweit okay?

Udo Pollmer: Zu welchem Hausarzt? (muss kräftig lachen) Mein Haus braucht keinen Arzt und mir geht’s gut.

Frage: Sie sind der Meinung, dass wir glücklicher, gesünder und genussvoller leben könnten, wenn wir uns von der Vorstellung verabschieden würden, es gäbe die gesunde Ernährung für alle, und Sie rufen zum Boykott der meisten Statis­tiken auf ...

Pollmer: ... nicht zum Boykott, ich will ja nur, dass die Statistiken richtig gemacht werden. Statistik ist eigentlich ein wunderbares Instrument, um Zusammenhänge sichtbar zu machen, um dann mit den Mitteln der Forschung den Ursachen 
auf den Grund zu gehen. In der Ernährungswissenschaft wird in einem kaum vorstellbaren Maße getürkt. Gerade hat John Ioannidis, ein namhafter Biostatistiker aus Harvard, mal Hunderte von Studien zum Thema Krebsgefahr beziehungsweise Krebsschutz durch Nahrungsmittel analysiert. Ergebnis:
 so wertvoll wie ein gebrauchtes Kondom. Wir brauchen im Grunde nichts von dem zu glauben, was uns erzählt wird.

Frage: Demnach könnte ich jetzt theoretisch im Dorf anrufen und eine Schlachtplatte plus eine Kiste Bier kommen lassen, ohne mir eine Rüge von Ihnen einzu­handeln?

Pollmer: Warum sollte ich das rügen? Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Und die Neigungen der Individuen sind naturgemäß unterschiedlich. Je nachdem aus welchem Teil der Welt sie kommen, haben die Menschen unterschiedliche Vorstellungen von Ernährung. Eine traditionelle Eskimomahlzeit, wohlgemerkt eine Mahlzeit und nicht die Tagesration, sind locker fünf Kilo Robbenspeck. In den Tropen ist wiederum der Anteil 
der pflanzlichen Kost größer, einfach weil man leichter an nahrhafte Früchte kommt wie Bananen, Avocados, Kokosnüsse. Dass man sich in einem süddeutschen Dorf mit Appetit über Fleisch und Wurst hermacht, war dort eine biologische Notwendigkeit, einfach deshalb, weil sich das Voralpenland klimatisch für Weidewirtschaft und nicht für Ananaszucht eignet. Ich krieg' hier regelmäßig Anrufe von FachjournalistInnen, die ein Statement von mir wollen, nach dem Motto der Vegetarier sei der klügs
te Zweibeiner überhaupt. Die ganzen Ernährungsbeiträge kommen doch mit der Attitüde daher "Wer sich vegetarisch ernährt, ist etwas Besseres als die ganzen Arschlöcher die einer normalen Arbeit nachgehen und dafür Power brauchen". Wir sind allerdings erwiesenermaßen Säugetiere, also ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir das, was wir zum Leben benötigen, in schmackhaften Säugetieren vorfinden. Zumindest erheblich größer, als dass wir es in einer Staude am Wegesrand antreffen.

Frage: Sie weisen in einem Ihrer Bücher auf
 die Monica­-Studie der WHO hin.
 In dieser Studie erreichten männliche Teilnehmer die höchste Lebenserwartung, wenn sie täglich den alkoholischen Gegenwert einer halben Flasche Wein verputzt haben. Erst bei einer ganzen Flasche – im medizinischen Sinne also bereits als Säufer – erreichten sie dieselbe (relativ) frühe Sterblichkeit wie Abstinenzler. In Frankreich könnte man mit so einer Aussage Staatspräsident werden. Hier ist sie mir in ihrem Buch zum ersten Mal begegnet. Gibt es bei uns so etwas wie eine Lobby der Spaßbremsen?

Pollmer: Ja. Ich glaube, das hängt mit unserer protestantischen Vergangenheit zusammen. Es wird hinter jeder Freude eine schlimme Versuchung gesehen. Aus dieser Ecke kommen viele der aktuellen Warnungen. Es ist egal, was die Leute essen oder trinken, aber sobald sie dabei Vergnügen empfinden, ist es natürlich ungesund. Es ist noch nie etwas als gesund bezeichnet worden, was die meisten Menschen gerne essen. Und noch
 nie etwas, was die meisten nicht leiden können und ungesund wäre. Allein an der Tatsache, dass Kinder Brokkoli nicht mögen, wird erkannt, dass das gesund fürs Kind sein muss. Und sobald Kinder etwas kollektiv mögen, zum Beispiel Pizza, ist sie des Teufels. Diese verlogene Logik zielt darauf ab, die Menschen zu destabilisieren und ihnen Schuldgefühle anzuhängen. Der Appetit als moderne Erbsünde der Evolution. Schuld ist ein böses Geschäft.

Frage: Schuld?

Pollmer: Der Körper fordert ein, was er braucht. Wäre es anders, gäbe es keine erfolgreiche Evolution. Und dieses Gefühl, das uns der Appetit vermittelt, ist so stark, dass es sich gegen den Kopf über kurz oder lang durchsetzt. Jede junge Frau, die eine fettarme Abnehmdiät macht, weiß, dass bei nahender Regel der gute Vorsatz in sich zusammenfällt. Dann wird eine Familienpackung Eiscreme verdrückt, damit die Fettbilanz wieder stimmt. Mit ein bisschen Grips würden die Menschen daraus lernen, dass Fett lebensnotwendig ist. Sie würden bei gehöriger Anspannung ihres Verstandes bemerken, dass der Körper durch die fettarme Philosophie nicht schlank, sondern immer dicker wird. Aber sie wollen immer wieder mit dem Kopf durch die Gummiwand.

Frage: Was veranlasst die Ernährungsexperten, kollektiv fettarme Kost zu verordnen?

Pollmer: Die Boshaftigkeit ist eine wesentliche Triebkraft. Wir haben bei keiner Ernährungsempfehlung, die die letzten dreißig Jahre verbreitet worden ist, einen belastbaren wissenschaftlichen Nachweis von irgendeinem wie auch immer gearteten Nettonutzen. Ernährungsberatung ist nebenbei bemerkt ein Treiben, das sich nur sehr bedingt an Männer wendet. Wenn Sie einem Mann sagen, er soll am Tag drei Liter trinken, hat es nicht denselben pädagogischen Wert, wie wenn man es zu einer Frau sagt. Der Mann kommt am Abend aus der Kneipe und sagt "Alles klar Schatz, hab die drei Liter getrunken!", dann ist das Thema für ihn durch. Die Ernährungsberatung wird von Frauen ausgeübt und dient dazu, namentlich Frauen zu destabilisieren, ja sie fertigzumachen. Es ist Gewalt von Frauen gegen Frauen.

Frage: Sie reden von vorsätzlicher Destabilisierung? Welchen Sinn soll die haben?

Pollmer: Angefangen hat der Ernährungsberatungswahn mit dem Ziel, den Damen zu erklären, sie müssten magerer werden, weil sie dann schöner seien . Jetzt sehen wir aber seit fünfzig Jahren auf der ganzen Welt, dass sie davon nur fetter werden. Gibt es nicht ein gutes Gefühl, Konkurrentinnen zu eliminieren, indem ich ihnen einen Rat gebe, der sie unansehnlicher macht? Für den Fall aber, dass es tatsächlich zu einem Abschmelzen ihrer Fettpolster kommt, sind fatalerweise die Reservefette der Frau als Erstes dran. Die Reservefette befinden sich in ihrem Busen und dem Po. Und es gibt offenbar nichts Erhebenderes, als wenn bei der Konkurrentin Busen und Po schlappmachen. Außerdem wissen die Urheber dieser Ratschläge sehr genau, dass man, wenn man sich fett- und kalorienarm ernährt, ziemlich bald unausstehlich wird. Hunger ist eine der stärksten Kräfte, um die Menschen reizbar zu machen. Damit kann man das Sozialsystem der betroffenen Frauen ruinieren.

Frage: Fänden unsere Kinder das Prinzip Pizza abscheulich, schreiben Sie, dann würde man sie ihnen zwangsverabreichen?

Pollmer: Genau! Dann gäb’s Schulungen! Die Ernährungspäpste würden Kochkurse fordern, um den Wert der Pizza zu preisen: wertvolles Getreide, das gute Olivenöl, der Käse mit seinem für die Knochen wichtigen Kalzium, es würde doziert, wie vorteilhaft die verschiedenen Beläge sind, Ananas, Gemüse, Sardellen, oder auch ein bisschen Schinken. Aber nein, die Kinder stehen auf Pizza, also ist sie des Teufels.

So entstehen viele Ammenmärchen. Woher kommt zum Beispiel die Idee, dass Salz gefährlich ist? Wer mit Land- oder Forstwirtschaft zu tun hat, weiß, dass die Tiere mit Salzlecksteinen besser gedeihen und gesünder sind. Der Hang zum Salz ist uns allen angeboren, viele Wildtiere unternehmen dafür lange Wanderungen, offenbar lohnt der große Aufwand. Man kann auch nicht zu viel davon erwischen, weil jeder Salzüberschuss zu Durst führt, um es schnell wieder auszuschwemmen. Das Salzlecken verschafft, weil es biologisch sinnvoll ist, Befriedigung. Genau das war Anlass zu sagen, "Oh Gott, eine Verlockung des Teufels". Einer der namhaften Täter auf diesem Gebiet war der Arzt und Gesundheitsapostel Bircher-Benner . Der hat damals, zusammen mit Kollegen in der Schweiz, dort, wo die Calvinisten und Zwinglianer ihr Unwesen trieben, versucht, den Teufel aufzustöbern. Wenn man den in flagranti erwischt und austreibt, bleibt die Menschheit gesund. Irgendwann hat Bircher-Benner mit Kollegen Tabak gegen Salz getestet. Da hat er doch glatt herausgefunden, dass man auf Salz weniger leicht verzichten kann als auf Tabak. Das will was heißen, denn Bircher-Benner war Kettenraucher. Aus dieser Erfahrung hat er dann geschlossen, dass Salz ein schlimmeres Teufelswerk sein muss als Tabak. Dann hat er zur Untermauerung seine These noch geschaut, ob es ein Völkchen gibt, das ohne Salz auskommt. Das fand er in der Arktis. Die Eskimos fischen ihr Essen aus dem Salzwasser, die brauchen keinen Salzstreuer. Er hätte das Salz auch gegen das Atmen testen können, dann hätte er herausgefunden, dass Atmen noch eine viel gefährlichere Verlockung ist, weil der Verzicht aufs Atmen noch schwerer fällt als das Mümmeln salzloser Kost.

Frage: Millionen von Frühstückseiern atmen jetzt dankbar auf. Und ein paar Millionen Leser interessieren sich bestimmt für eine andere These von ihnen: Ein gesunder Erwachsener mit Übergewicht, der von seinem Hausarzt den Rat bekommt, mit einer Diät dagegen anzugehen, darf ihm den Vogel zeigen und einen Eisbecher essen gehen?

Pollmer: Auf Wunsch gern mit Sahne. Übergewicht ist ein dubioser Begriff, so wie Überintelligenz. Wenn ich Körperhöhe und Körpergewicht ins Verhältnis setze , um mit einer beliebigen Formel eine Zahl zu generieren, um auf einer Skala von fünfzehn bis fünfzig die gesundheitliche Zukunft eines Menschen vorauszusagen, bin ich entweder bescheuert oder skrupellos. Auf jeden Fall befinde ich mich jenseits des wissenschaftlichen Weltbildes. Der BMI ist etwa so, wie wenn ich versuchen würde, aus Schädelumfang und Körpergröße den Intelligenzquotienten einer Ernährungsberaterin zu berechnen. Alle gesunden Menschen über dreißig haben einen erhöhten BMI, und das gehört zur biologischen Entwicklung, zum Älterwerden. Das Körpergewicht hat herzlich wenig mit den Essgewohnheiten zu tun. Das ist eine der magischen Vorstellungen unserer Gesellschaft.

Frage: Das ist Ihr Ernst?

Pollmer: Zunächst: Wir brauchen die meiste Energie nicht für die Bewegung, sondern fürs Heizen. Der Mensch ist bekanntlich siebenunddreißig Grad warm. Ein System Tag und Nacht auf dieser Temperatur 
zu halten, kostet verdammt viel Energie. Deshalb essen wir. Kalorien sind nicht umsonst eine Energieeinheit für Wärme. Wenn jemand schlaksig ist, mit wenig Unterhautfettgewebe, also auch schlecht isoliert, dann hat der natürlich hohe Wärmeverluste und damit einen hohen Energiebedarf. Der muss den ganzen Tag futtern, damit er heizen kann.

Wenn jetzt einer auf die komische Idee kommt, eine Diät zu machen, dann kompensiert der Körper den Energiemangel, indem er die Wärmeabgabe vermindert. Das heißt, er bremst die Durchblutung der Extremitäten. Das Ergebnis sind kalte Füße und kalte Hände, Arme und Beine. So gleicht der Körper das, was beim Essen gespart wurde, mehr als aus und kann nun die Überschüsse nutzen, um die Isolation zu verbessern. Da wir hier in einer kalten Region leben, muss vor allem der Bauch gut isoliert werden, denn darinnen befinden sich die Organe. Vor allem Menschen, die zur Korpulenz neigen, also Pykniker, können diesen Speck recht schnell anlegen. Der Hagere kann das nicht. Er kann mal geringfügig etwas zulegen, aber wenn er unter Druck gerät, dann nimmt er wieder ab. Der Korpulente nimmt unter Druck zu. Und wenn er mal loslässt, zum Beispiel einen entspannten Urlaub macht, dann nimmt er ab, egal, wie viel er isst.

Frage: Wie erklärt sich das?

Pollmer: Es gibt mehrere Regulationssysteme. Eines davon ist das Cortisol, ein Stresshormon. Wenn jemand das dem Cortisol praktisch identische Cortison zu sich nimmt, bekommt er einen fetten Bauch und riskiert Diabetes, Herzinfarkt, kaputte Gelenke und ähnliche Folgeerkrankungen. Wenn ich nun ständig unter Druck bin, dann habe ich auch diese erhöhte Cortisolproduktion, und das ist der Grund, weswegen gerade mit dem Bauchspeck verschiedene Krankheiten wie zum Beispiel Infarkt korrelieren. Das heißt aber nicht, dass sie vom Speck herrühren, das ist Unsinn, sondern weil alles eine gemeinsame Ursache hat: Ärger, Wut, Verzweiflung.

Um diese aberwitzigen Ideen zum Übergewicht ein wenig zu relativieren: Wenn jemand Fieber hat, dann sagen wir ja auch nicht: Du hast Übertemperatur, deswegen haben wir schon den Kühlraum frei gemacht. Damit würden wir ihn umbringen. Nein, der Fiebernde wird untersucht und bekommt dann, zum Beispiel, die Diagnose Lungenentzündung. Die wird spezifisch behandelt. Auch stark Übergewichtige brauchen keine Diät sondern eine Differenzialdiagnose.

Frage: Sie haben die Empfehlung der Ernährungsberater geprüft, man solle fünfmal am Tag eine Portion Obst oder Gemüse essen. Ihr Ergebnis: Die Empfehlung sei so essenziell für ein gesundes Leben wie die Behauptung: "Wer fünfmal am Tag in eine Bratwurst beißt, ist vor Geschlechtskrankheiten geschützt." Der einzige Effekt solcher Behauptungen sei, dass die Menschen weiter essen wie bisher, allerdings mit schlechtem Gewissen. Hört man auch da die Empfehlung heraus, auf solcherlei Ratschläge einfach nicht mehr zu hören?

Pollmer: Ja. Viele Menschen essen mit schlechtem Gewissen, ja mit Angst. Immer mehr versuchen, ihrem eigenen Appetit Mores zu lehren in der Hoffnung, mit einem längeren Leben belohnt zu werden. Nach Beginn der Fünf-am-Tag-Kampagne hat es nur vier bis sechs Wochen gedauert und die Praxen der Gastroenterologen füllten sich mit den Opfern dieser Empfehlung. Auch als sie davon krank wurden, hatten sie nicht genügend Arsch im Schlüpfer zu sagen, okay, dann verzichte ich wieder darauf. Auch hier trifft es primär die Frauen. Viele machen es dann erst recht, weil sie glauben, die Beschwerden lägen an der mangelnden Konsequenz. Solange das Ärzte mit sich selbst machen (was sie natürlich nicht tun), ist mir das wurscht. Aber wir zerstören mit solchen Kampagnen systematisch die seelische und körperliche Integrität von vor allem jungen Frauen und Kindern.

Damit wir uns recht verstehen: Ich hab nichts dagegen, wenn man Ratschläge erteilt. Ein solches Treiben setzt aber voraus, dass man sich vorher der Frage gestellt hat, können die Ratschläge auch schaden, was sind die Nebenwirkungen und wie groß sind die Erfolgsaussichten? Es sind unglaubliche Dinge am Start: Die Deutschen haben sich zwanzig Jahre lang erzählen lassen, Kaffee sei ein Flüssigkeitsräuber . Um das zu glauben, muss man aber wirklich schon den passenden Geisteszustand mitbringen. Mit einer polnischen Putzfrau klappt das nicht. Die weiß, wenn sie Kaffee trinken will , muss sie vorher Wasser aufsetzen. Und wenn die Kanne leer ist, dann hat sie eine Kanne Wasser getrunken. Wenn ihr dann Gesundheitsexperten erzählen, sie hätte sich gerade Flüssigkeit geklaut, dann zweifelt sie am Verstand ihres Gegenübers. Abgesehen davon gehen pauschal erteilte Ratschläge immer ins Auge. Der Stoffwechsel der Menschen unterscheidet sich, wir sind genetisch viel unterschiedlicher, als viele glauben.

Frage: Haben Sie ein Beispiel?

Pollmer: Viele Mütter versuchen ihren Kindern Obst einzuflößen. Das eine Kind freut sich über saure Beeren im Jogurt und will das jeden Tag. Das andere isst höchstens eine halbe Banane pro Woche. Die eine Mutter ist begeistert über ihr kluges Kind, die andere verzweifelt, weil das Gör nicht hören will. Das ganze Obst-Theater könnten die sich ersparen, wenn sie, anstatt sich grenzwertige Gesundheitssendungen anzukucken, mal ihre eigene Birne einschalten würden. Das Verhältnis eines Kindes zu Obst hängt primär mit seiner Magensäure zusammen. Ein Kind, das sehr wenig Säure produziert, braucht die sauren Sachen, um in der Frühe in Schwung
zu kommen. Und einem Kind, das viel Magensäure produziert, würde dieses Beerenzeug ein Loch in den Magen brennen, es lehnt das Zeug also vollkommen zu Recht ab. Ein Bundesverband der Schuster verfügt doch auch über genügend Fachwissen und Verantwortungsgefühl, um uns nicht mit dem Ratschlag zu kommen, wir sollten alle Schuhgröße zweiunddreißig oder so tragen. Denn man habe festgestellt, dass diese Schuhgröße mit einer besseren Fußgesundheit korreliert als Größe fünfundvierzig.

Frage: Sie sagen, jemand, der seine Ernährung ausschließlich der vermeintlichen Gesunderhaltung des Körpers widmet, handelt genauso lebensfeindlich wie jemand, der Sex nur aus orthopädischer Sicht betreibt und darauf achtet, seine Wirbelsäule zu entlasten. Diese Formulierung wollte ich nicht hinterfragen, sondern abschließend nur ausdrücklich dazu gratulieren.

Pollmer (lacht): Ja. Es ist schon fatal, mit welcher Konsequenz die Menschen sich aufgrund falscher Ratschläge ihr Leben kaputt machen. Und im Grunde einfach nur zum Heulen.


Hans Kantereit


Pflege: kollektive Verdrängung

"Wir stehen vor einer Schicksalsfrage "

Wie sollen und müssen Demenzkranke versorgt werden? Darüber diskutiert der Bundestag wie auch der Pflegebeirat der Regierung, der heute seinen Bericht vorlegt. Pflegeexperte Claus Fussek kritisiert bei tagesschau.de eine "jahrzehntelange beschämende Diskussion".

tagesschau.de: Die Politik streitet über die Zukunft der Pflege, vor allem über die Frage, ob Demenzkranke verstärkt Leistungen aus der Pflegeversicherung beziehen können. Wie müsste "Pflege" definiert werden, um den Bedürfnissen dieser Menschen gerecht zu werden?

Claus Fussek: Die Frage nach einer Definition von Pflege ist schon falsch. Da gibt es nichts zu definieren, genau so wenig wie in den Bereichen Kinderkrippen oder Betreuungsgeld. Demenzkranke brauchen einfach Zeit, brauchen jemanden, der sich um sie kümmert. Das kann eigentlich nicht so schwer sein. Die beschämende Diskussion hierzulande dauert ja nur deswegen so lange, weil es ums Geld geht und um den Gedanken im Hinterkopf: Die Alten sind uns zu teuer.

Dabei steht die Nation in Sachen Pflege vor einer Schicksalsfrage. Demenz und Alzheimer sind Volkskrankheiten. Kaum eine Familie wird nicht davon betroffen sein, sei es durch die Erkrankung an sich oder als pflegende Angehörige. Wir müssen eine gesamtgesellschaftliche Lösung finden, um diese Familien zu entlasten. Und um die Versorgung bezahlbar zu machen.

Zur Person 

Claus Fussek, Jahrgang 1953, gilt als einer der bekanntesten Pflegeexperten Deutschlands. Der Diplom-Sozialpädagoge ist Mitglied im Leitungsteam des ambulanten Pflegedienstes "Vereinigung Integrationsförderung" und Autor zahlreicher Bücher. Das neueste mit dem Titel "Es ist genug" fordert die Rechte alter Menschen ein.

Keine Luxusdebatte 

tagesschau.de: Lässt sich eine solche Pflege über die bisherige Form der Pflegeversicherung finanzieren? Viele befürchten ja eine Kostenexplosion, wenn die Pflegeversicherung jetzt für mehr Demenzkranke zahlt.

Fussek: Wenn die Pflege nicht zu bezahlen ist, dann muss man den Alten und Pflegebedürftigen halt sagen, dass sie zu viele sind... Nein, im Ernst: Wir können nicht in einer Gesellschaft leben, die sich gerne "christlich" und "solidarisch" nennt und uns darüber keine Gedanken machen. Wir wissen, dass immer mehr Menschen immer länger leben, auch des medizinischen Fortschritts wegen. Wir sind - angeblich - gegen aktive Sterbehilfe.

Wenn das alles so ist, dann müssen die Überlebenden finanziert werden. Das ist keine Luxusdebatte. Wir reden über die Finanzierung von Grund- und Menschenrechten. Wir reden über die Familie als den preisgünstigsten Pflegedienst der Nation, der sich weiter kümmern können soll, ohne zusammenzubrechen.

tagesschau.de: Der erweiterte Pflegebegriff steht ja schon lange zur Debatte. Sehen Sie allmählich einen Fortschritt?

Fussek: Nein, im Gegenteil. Diskutiert wird ja seit der Einführung der Pflegeversicherung 1995. Von daher würde ich dieses Gesetzesvorhaben als das langwierigste überhaupt für das Guinessbuch der Rekorde vorschlagen. Aber bereits bei Einführung war klar, dass man vor allem die Beitragsstabilität im Hinterkopf hatte. Deswegen nahm man damals bereits einen Personenkreis von etwas 500.000 Menschen aus der Pflegeversicherung heraus, indem man für die Pflegestufe I eine erhebliche Pflegebedürftigkeit mit einem Hilfebedarf von 90 Minuten pro Tag voraussetzt - aus rein finanziellen Gründen! Ursprünglich war ein Hilfebedarf von 60 Minuten vorgesehen gewesen. Gleichzeitig hieß es immer, diese Regelung sei ja nur der Einstieg und man würde "bald nachbessern". Jetzt, also im Jahr 2013, diskutieren die sogenannten Experten immer noch, ob wir uns die alten dementen Menschen noch leisten können.

Die Angst vor der eigenen Hilfslosigkeit 

tagesschau.de: Warum tun sich Politik wie Gesellschaft so schwer?

Fussek: Das ist eine gute Frage, denn eigentlich sind sich ja alle einig. Niemand in Deutschland ist für schlechte Pflege. Niemand in Deutschland will nach Minuten gepflegt werden, und das in einem Doppelzimmer in einem Pflegeheim. Trotzdem passiert nichts, und zwar in keiner Partei. Das lässt sich nur mit kollektiver Verdrängung erklären, die auch den Wahlkampf bestimmen wird. Auch da sehe ich nicht die Spur einer Auseinandersetzung mit diesem Thema.

Pflege war noch nie Wahlkampfthema. Ich habe noch nie ein großes Plakat von irgendeiner Partei, ob links oder rechts, ob Regierung oder Opposition, gesehen, das sich mit diesem Thema befasst. Dazu kommt, dass die Gesellschaft die Auseinandersetzung auch nicht einfordert, obwohl es ein gesamtgesellschaftliches Thema ist. Die Diskussion um den Pflegebegriff geht an den Menschen vorbei. Da engagieren wir uns mehr fürs Dosenpfand.

tagesschau.de: Ist das die Angst vor der eigenen Hilfslosigkeit?

Fussek: Mit Sicherheit. Wir beobachten das ja auch bei der Diskussion übers Klima oder, jetzt aktuell, übers Hochwasser, dass uns solche Themen entgleiten. Das ist auch bei der Pflege der Fall. Wir haben so viele alte Menschen, dass wir nicht mehr wissen, wie wir sie versorgen sollen. Mehr als 100.000 Frauen aus Osteuropa sind bereits jetzt in der häuslichen Pflege legal oder halblegal tätig. Dafür schämt sich niemand. Dabei müssten wir zum Beispiel die Tagespflege ausbauen. Unter Umständen ist auch mehr private Vorsorge nötig, weil die Politik eben nicht reagiert.

Das Interview führte Ute Welty, tagessschau.de


Das verteufelte Geschlecht

Wie wir gelernt haben, alles Männliche zu verachten. Und warum das auch den Frauen schadet. Ein Essay

Gleich zu Beginn der Finanzkrise sah das Magazin der Süddeutschen Zeitung, wie sich ein unheimlicher Penis der Zerstörung erhob. Neben dem Foto eines erigierten Büroturms und unter der moralstickigen Überschrift Hochmut kommt vor dem Phall schrieb das Blatt: »Die Wirtschaftskrise ist vor allem eine Krise der Männer.« Um in Klammern und kokett hinzuzufügen: »Im Ernst: Wäre Frauen der ganze Mist passiert?«

Die einzig sinnvolle Antwort »Klar, warum denn nicht?« fiel dem Autor nicht ein. Stattdessen raunte er von der Gier, dem Machthunger, der Gewissenlosigkeit und dem Egoismus der Männer, genauer: der »Herde von Männern«, um das Animalische im Manne auch gebührend zu entlarven. Unklar blieb allerdings, ob der männliche Redakteur damit auch eine Selbstbeschreibung lieferte und was das für seinen Text bedeutete: tierisch gut, tierisch schlecht, tierisch blöd?

Er wähnte sich wohl in bester Gesellschaft, denn etwa zur gleichen Zeit deutete der Trendforscher Matthias Horx die Finanzmalaise zur »Testosteron-Krise« um. Vermutlich unabhängig davon gelobte die nach dem Bankencrash gewählte isländische Premierministerin Jóhanna Sigurðardóttir, das »Zeitalter des Testosterons« zu beenden. Das wiederum dürfte die Financial Times Deutschland begrüßt haben, schrieb sie doch unter der Überschrift Ausputzfrauen ohne Umschweife: »Frauen sind die besseren Finanzexperten. (...) Nun sollen sie die Trümmer der Männer wegräumen – und mit ihrem Gespür für Risiken den nächsten Absturz verhindern.«

Die Welt war wieder heile, also eigentlich kaputt. Kriegstreiber und Trümmerfrauen, die Männer reißen ein, die Frauen bauen auf, Testosteron zerstört, Östrogen heilt.

Man würde vermutlich unnötig strenge Maßstäbe anlegen, verlangte man eine halbwegs plausible Erklärung dafür, warum der schwankende Testosteronspiegel einer Männerpopulation sich auf die internationale Finanzwelt auswirken soll: etwa auf die globalen Ungleichgewichte von Handelsströmen und Zahlungsbilanzen oder auf das Kleingeschriebene der Euro-Verträge, die erst mit einem Jahrzehnt Verzögerung ihre Fatalität offenbaren.

Ach, da solle man nicht kleinlich sein? Es reiche doch schon der Hinweis, dass vor allem Männer als Banker arbeiten. Klar: Und so viele Kinder scheitern bereits in der Grundschule, weil dort überwiegend Frauen unterrichten...

Also noch mal: Worum geht es? Welchen Erkenntniswert erhoffen sich die Autoren, wenn sie die Finanzkrise und die meisten anderen Krisen unserer Welt – Hormone hin oder her – den Männern in die Schuhe schieben? Was genau meinen sie damit?

Denn es dreht sich ja nicht nur um die Wirtschaftskrise. Als sich im vergangenen Jahr überwiegend Männer in Davos zum Elitegipfel trafen, legten sie, berauscht von der Höhenluft, ein Papier vor mit dem hoffnungsfrohen Titel: »Sechs globale Herausforderungen, eine Lösung: Frauen!« Feminine Linderung versprechen sie sich unter anderem bei Arbeitslosigkeit und Kriegen, in Fragen der Bildung und solchen der alternden Gesellschaft. Was im Umkehrschluss vermuten lässt: In diesen Fällen sind Männer das Problem, oder sie erzeugen es. 

Diese Diagnose würde wohl der ehemalige französische Außenminister Bernard Kouchner teilen, der 2008 in pompöser Schlichtheit konstatierte: »Fortschritt wird durch Frauen erzielt.« Dass Männer im Kontrast dazu als »Feinde der Menschheit« gelten müssen, hat sogar die ZEIT schon vor zehn Jahren getitelt. 

Man kann aus solchen Erkenntnissen auf verschiedene Weise Profit schlagen: mit brachialer Rhetorik wie die schwedische Politikerin Ireen von Wachenfeldt, die in hinreißender Offenheit befand: »Männer sind Tiere« – was die Feministische Partei Schwedens mit der Forderung nach einer »Männer-Steuer« begleitete. Oder indem man die Paranoia pflegt wie die Innsbrucker Politik-Professorin Claudia von Werlhof, die Männer verdächtigt, im Rahmen des »kapitalistischen Patriarchats« das verheerende Erdbeben von Haiti ausgelöst zu haben – weil sie den naturfeindlichen Männern auch bizarrste geologische Experimente zutraut. Oder indem man sich dem Mainstream der Gesellschaft andient, wie im aktuellen Grundsatzprogramm der SPD , das unter Kapitel 3.4 fordert: »Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden.«

Sollten wir daraus folgern, dass die Herren Gabriel und Steinmeier einen minderen Anteil an Menschlichkeit besitzen als die Damen Nahles und Kraft? (Wobei, sorry, Letztere dank ihrer Schuldenpolitik keinen Zutritt zum Anti-Testosteron-Club der Ausputzfrauen erhalten sollte.) Und wann wäre dieser Logik nach eine Gesellschaft endlich hinreichend unmännlich, also menschlich: Wenn sie 50 Prozent oder 33 oder 17,3982 Prozent Männlichkeit enthielte? Und wie viel enthält noch mal die jetzige?

Ach, darum geht es auch nicht? Aber worum dann? Worum genau?

Womöglich sind diese Aussagen ja nur zu verstehen, wenn und weil sie eben nichts Genaues meinen. Weil sie nur ein vages Unbehagen äußern, einen groben Vorwurf, der davon lebt, immer unpräzise und daher stets irgendwie plausibel zu sein. Doris Lessing , die große feministische Autorin, beklagte, die Abwertung des Männlichen sei »so sehr Teil unserer Kultur geworden, dass sie kaum noch wahrgenommen« würde. Betäubendes, betäubtes Hintergrundrauschen.

Männlichkeit muss gar nicht erst durch nachprüfbare Kausalketten mit dem Unerwünschten verknüpft werden. Sie erfüllt eine viel schlichtere Aufgabe: Sie ist die Kurzformel für Missstände aller Art. So wie wir gelernt haben, schneller Reize wegen Bildschirme und Plakatwände mit nackten Frauen zu füllen, so haben wir uns antrainiert, jedem Problem einen männlichen Defekt beizugesellen, der es irgendwie verursacht haben soll. Kausalitätspornografie.

Das erlaubt es, über Männer so pauschal und abfällig zu sprechen wie über keine andere Gruppe. Oft genügt für die Verurteilung der bloße Verdacht. Als der frühere Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn , am 14. Mai 2011 in New York verhaftet worden war, weil eine Hotelangestellte behauptet hatte, von ihm vergewaltigt worden zu sein, wusste Amerikas Alpha-Kolumnistin Maureen Dowd in der New York Times schon am nächsten Tag, dass sich DSK »wie ein Bure« (Apartheid!) und »Primitiver« (Barbarei!) im »Höhlenmenschen-Stil« (Neandertaler!) auf »eine hart arbeitende, gottesfürchtige, junge Witwe« (Engel!) gestürzt hatte. Der Spiegel entlarvte nach dem Vorfall den Mann gar als »des Menschen Wolf« (Feind der Menschheit!). Kurze Zeit später ließen die Staatsanwälte alle Vorwürfe gegen Strauss-Kahn fallen .

Es geht nicht darum, diesen Politiker zu verteidigen. Wie man heute weiß, hat er häufig zumindest den Respekt für Frauen vermissen lassen. Es geht darum, zu bemerken, dass einem Mann blindlings eine Vergewaltigung zugetraut wird. Einer Frau aber nicht einmal eine Lüge. Artikel über die Niedertracht der Hotelangestellten sind jedenfalls nicht bekannt, wären indes ebenso evidenzfrei denkbar gewesen. Aber natürlich würden die Leser sie als nicht satisfaktionsfähige Dummheit durchschauen. Geht es dagegen um Männer, adeln wir den Hirnriss zur Erkenntnis: Gerade weil nichts Genaues bekannt ist über die Geschehnisse in Suite 2806 des New Yorker Sofitel, füllen wir das Vakuum mit dem Fantasiebild vom bösen Mann. Geht es um Abscheuliches, dient er als beliebteste Ursache.

Der antimaskuline Reflex lässt sich noch einige Niveaustufen absenken, um dann zu einem formlosen Faul- und Tumbheitsverdacht zu werden, wie ihn gerade beispielhaft der Philosoph Richard David Precht in der Für Sie äußerte: »Die Anzahl der Männer, die mit einem Bier vor dem Fernseher Fußball gucken und einfach nur glücklich sind, ist nun wirklich größer als die Anzahl der Frauen bei einer vergleichbaren Tätigkeit.« Wobei im Dunkeln blieb, a) woher die Statistik stammt und b) was unter einer vergleichbaren Tätigkeit zu verstehen ist: Haar-Extensions einkleben, Germany’s next Topmodel gucken und dabei Baileys schlürfen oder mit der Freundin die neuesten Abenteuer aus den Feuchtgebieten betratschen? Wenn es um Männer geht, begeben sich halt auch Philosophen auf Augenhöhe mit Mario Barth.

Und da wir schon ein bisschen geprobt haben: Versuchen wir einmal, im Duktus der Männerphobie über andere soziale Gruppen zu sprechen. »Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die Gesellschaft der Juden überwinden.« Oh Gott! »Das Zeitalter der Östrogene muss beendet werden.« LOL, oder für die Älteren unter uns: haha. »Schwarze sind Tiere.« Oh nein – aber wenn es sich um schwarze Männer handelt, dann ist es vielleicht doch sagbar.

Ach, das ist jetzt aber maßlos übertrieben? Und wenn es das ist, warum spicken wir dann Artikel über Männer mit solchen Maßlosigkeiten? Es ist notwendig, für die Antwort ein wenig auszuholen. 

Feministinnen gelten landläufig als Hauptschuldige am verbreiteten Männerhass. Mal sollen die radikalen Varianten der Post-68er für unser schäbiges Männerbild verantwortlich sein, mal wird die erste Welle der Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts als Quelle genannt. Beides ist falsch. Der Feminismus hat die Ideologie der bösen Männlichkeit nicht erfunden, er hat diese nur für eigene Zwecke genutzt und oft sogar richtige und politisch segensreiche Schlüsse daraus gezogen. 

Das Stereotyp vom unmoralischen, gewalttätigen, sexuell unersättlichen Mann ist weit vor dem Feminismus entstanden, an einer historischen Schlüsselstelle: zu Beginn der Moderne, um 1800. Die Geburt des maskulinen Zerrbildes ist also unmittelbar mit der Geburt der modernen Gesellschaft verbunden, seither schreiten beide, Moderne und verteufelte Männlichkeit, gemeinsam und untrennbar durch die Historie. Das Unbehagen an der Moderne wurde zum Unbehagen am Mann. Und umgekehrt. 

Und wir müssen an den Startpunkt zurückgehen, um uns von diesem Missverständnis zu befreien.

Davor erhebt sich allerdings eine hohe Hürde; sie besteht in einem Irrtum der Geschlechterwissenschaften. Die gehen mehrheitlich davon aus, zu Beginn der Moderne habe der Mann sich selbst zum Inbegriff des Menschlichen erklärt, als überlegenes Geschlecht, rational, moralisch und fehlerlos. Im Unterschied zur emotionalen, häuslichen und einfältigen Schwundform des Menschen namens Frau. Als »Mann plus, Frau minus« wurde dieses vermeintliche Denkmodell bezeichnet – um es als patriarchal und anmaßend zu bekämpfen.

Nur leider: Es ist bloß ein Mythos. Um 1800 kommt als eigentliche historische Neuerung vielmehr ein Diskurs auf, der Männer als naturhaft unmoralisch, gewalttätig, egoistisch, asozial, hypersexuell, gefühlskalt, kommunikationsunfähig und verantwortungslos charakterisiert. Die Vorwürfe beginnen etwa um 1765. Im Jahre 1779 weiß der schottische Aufklärer William Alexander bereits: »Der Mann ohne weibliche Begleitung ist ein gefährliches Tier der Gesellschaft.«

Kurz darauf sieht der deutsche Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt in naturaler Männlichkeit nichts als »Härte und Gewaltthätigkeit«, nur »Einseitigkeit« und »Mangel«, was ihn zur Schlussfolgerung verleitet: dass »sich der Mann von seinem Geschlecht lossagen und sich dem Weiblichen nähern müsse, um wahrer Mensch zu werden«. Die SPD hat von ihm gelernt.

Andere bürgerliche Denker, die heute keiner mehr kennt, finden in Männern nichts als »Egoismus der gröbsten Art, instinktmäßigen Eigennutz« und eine »grausame und gleichgültige Natur«. Kein Wunder, dass von diesem bloßen »Stück kalter Vernunft« nur das Übelste zu erwarten ist: »die Gefühllosigkeit der Männer vernichtet die Menschlichkeit«.

Vieles von dem, was um 1800 zum Standard von Männlichkeitsbeschreibungen wird, lässt heutige Radikalfeminismen zu Poesiealben-Prosa verblassen. Alle Männer sind Vergewaltiger? Klar, schreibt John Millar 1787, nennt es allerdings »universale Prostitution«, die Männern den Frauen aufzwängen. Diese wiederum verfolgten unbeirrt ihren Weg, denn wo »es auf Vernunftgebrauch ankam, scheint immer das Weib die Bahn gebrochen zu haben...«. So schreibt es 1793 Theodor Gottlieb von Hippel , ein enger Freund von Immanuel Kant . (Und offenbar Inspirator von Herrn Kouchner.)

Man darf, trotz all dieser befremdlichen Begriffe, solche Einlassungen nicht als Randdiskurs missverstehen. In Aberhunderten Quellen der Zeit, in Büchern, Aufsätzen, Traktaten, finden sich die Spuren dieser aufkeimenden Überzeugung, die bedeutendsten Philosophen von Adam Smith über Kant zu Hegel wirken an ihr mit, bis dieses »Wissen« vom Mann um 1850 schließlich Eingang in die Lexika findet und kanonisch wird. (Erst dann kommt auch der Gedanke auf, die Guten und die Schlechten zu sortieren: Das Kommando »Frauen und Kinder zuerst« fällt erstmals 1852 auf einem Schiff Ihrer Majestät, Königin Viktoria.)

An vorderster Front agitiert Johann Gottlieb Fichte , der Philosophenstar nach Kant. Die Beschäftigung mit ihm ist besonders aufschlussreich, weil er das Geschlechterdenken der Moderne wie kein anderer auf den Punkt bringt. Gemeinhin wird er als übelster Frauenfeind geführt, denn in der Tat: Er spricht verheirateten Frauen jegliches Recht ab und verlangt, sie hätten alle Individualität aufzugeben, um sich ganz dem Manne zu unterwerfen.

Aber warum? Weil der Mann derart überlegen ist und von solch höherer Beschaffenheit, dass sie vor ihm zu kriechen habe? Keineswegs! Der Grund klingt weitaus hässlicher für den Mann, von dem Fichte vermutlich das abfälligste, das heimtückischste Bild zeichnet, das je entworfen wurde. 

Männer sind für ihn pure Triebtiere, allein der »niedern Sinnlichkeit« nachjagend, der »Geschlechtslust« – worin das »Wesen der Unmoralität« besteht. Sie sind restlos unfähig zu lieben, auch können sie keinerlei menschlich-warmen Kontakt zu ihren Kindern aufnehmen, allein die Vermittlung durch die Ehefrau kann das Gröbste lindern. So autistisch sind Männer in sich verpuppt, so sehr dem primitivsten Egoismus verhaftet – philosophisch feinsinnig formuliert: der Verabsolutierung ihrer Subjektivität –, dass Fichte sie als Prototyp des »absoluten Bösen« brandmarkt. In der säkularen Moderne ersetzt der Mann den Teufel als Eichmaß des Abscheulichen. 

Und wo ist Rettung aus dieser Kältekammer des Männlichen? Man ahnt es: bei der Frau natürlich. Nur sie, und nur sie allein, ist zur Liebe und damit zur Ehe fähig – dem Ort, darin ist Fichte kategorisch, »aller Moralität«. So kann allein sie den Mann zivilisieren und die bürgerliche Gesellschaft zu einer leidlich anständigen machen: indem die Frau sich unter Aufgabe aller Individualität und aller Rechte unterwirft, um durch die Übergröße ihres Opfers im Manne wenigstens ein paar moralische Anwandlungen zu wecken. Und diese dann im Laufe der Ehe so weit zu nähren, dass der Mann wider seine Natur zum brauchbaren Mitglied der Gemeinschaft emporsteigt.

Es klingt wie ein böser Traum – aber so gewalttätig, so furchterregend für beide Geschlechter präsentiert sich der Ur-Gedanke der modernen Männerskepsis.

Er ist auch eine Revolution: Als erste Epoche erzählt die Moderne keine Heldengeschichte der Männer, sondern eine Problemgeschichte. Das schließt nicht aus, zivilisierte Männer, die ihre Natur hinreichend überwunden haben, als Vorbild zu verherrlichen – es gibt um 1800 stets auch die Perspektive auf eine taugliche, weil reformierte Männlichkeit. Ebenso finden sich Übertreibungen in die Gegenrichtung, die das Bestialische des Männlichen zur Weltenkraft hochschreiben – und dem Manne alle kalten Talente zuschreiben, die Moderne zu bewältigen: Wissenschaft, Technik, Krieg. Aber im Zentrum des Geschlechterverhältnisses steht nicht der überlegene Mann. Sondern der unmoralische.

Dieser Einsicht folgt eine verhängnisvolle Geschlechterlogik. Die Verworfenheit der Männer bedeutet nämlich auch für die Frauen nichts Gutes: Die haben jetzt ganz anders zu sein! Wenn Männer das Problem der Gesellschaft sind, müssen Frauen die Lösung darstellen. Das geht nur, wenn sie von grundlegend anderem Charakter sind: einfühlsam, passiv, friedlich – der ganze Kanon der Beleidigungen einer reduzierten Weiblichkeit. Das Spiegelbild eben zu den Beleidigungen einer reduzierten Männlichkeit.

Und wenn die Zivilisierung qua guter Weiblichkeit misslingt? Dann gnade Gott den Menschen. Die Erde wandelt sich zur Hölle des Maskulinen. »Der natürliche Egoismus unseres Seyens würde die ganze Schöpfung zerstören«, schreibt ein lange vergessener Autor im Jahre 1800, und ein anderer malt 1798 unter dem Titel »Das andere Geschlecht, das bessere Geschlecht« folgendes Schreckbild seiner selbst: »Man kann gewiss seyn, dass die Welt längst zur großen, menschenleeren Wüste geworden wäre, wenn bloss Männer darauf gesetzt worden wären. Sie würden unfehlbar in Kurzem sich alle einander gemordet haben. Die Welt weiss nicht wie viel sie in dieser Hinsicht dem andern Geschlechte zu danken hat.«

Die beklemmenden Imaginationen von Männlichkeit und Weiblichkeit sind zeitgleich entstanden. Und bedingen einander. Doch während wir das Frauenbild inzwischen einer gründlichen Renovierung unterzogen und mit überfälligen Ergänzungen angereichert haben, sind uns ähnliche Aufhellungen des Männerbildes misslungen. Stattdessen macht unsere Gesellschaft es sich in einem Murmeltiertag der Männerressentiments behaglich und glaubt auch noch, durch deren unablässige Wiederholung die Geschlechterverhältnisse zu verbessern.

So gleichförmig sind die Vorhaltungen, dass an ihnen nicht einmal die Jahrhunderte abzulesen sind:

»Alle Bösewichter sind Männer. Gibt es irgendetwas Gutes auf der Welt, was die Männer gemacht haben? Nur Frauen sind gut.« (Lars von Trier, Regisseur und nach einem Nazi-Spruch selbst als Bösewicht entlarvt, 2003)

»Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen für die Männer. Du sollst ihre Barbarei nicht beschönigen mit Worten und Werken« (Friedrich Schleiermacher, Theologe, 1798).

»Der Krebsschaden unserer Kultur ist der zu starke Vorrang der Männlichkeit« (Alfred Adler, Psychologe, 1910).

So langweilen wir einander durch die Jahrhunderte und halten dies auch noch für wahlweise mutig, kritisch, aufschlussreich.

Aber wodurch wurde die Vorstellung von der bösen Männlichkeit ausgelöst? Man könnte vermuten, durch das Verhalten der Männer selbst. Durch empirische Beobachtung gewissermaßen. Aber das bestätigt sich nicht. Im Gegenteil: Um 1800 machte der empfindsame Mann Karriere, der sich von Macho-Gehabe lossagte. Gewalttätigkeiten von Männern gingen statistisch belegbar zurück (und tun es bis heute), und der warmherzige, sensible Typ avancierte zum Ideal der Zeit.

Die böse Männlichkeit sollte nicht das Verhalten der Männer erklären, sondern die Umbrüche der Gesellschaft. Die Ständegesellschaft zerfiel, Hierarchien begannen sich aufzulösen, und die Individuen wurden – meist gegen ihren Willen – aus alten Bindungen freigesetzt. An die Stelle der Tradition trat ein unübersichtliches, instabiles Gebilde: die moderne Gesellschaft. Arbeitsteilung, Individualisierung, Vervielfältigung von Rollen durch neue Berufe, neue Verhältnisse. Diese Welt wurde gefeiert – und gefürchtet. Die Aufklärer bejubelten zwar, um sich selbst zu beruhigen, die Vernunft, aber die eigentlichen Schlagworte der Zeit lauteten: Entfremdung, Zergliederung und Auflösung.

Und die Ursache? Man wusste sich nicht besser zu helfen, als die Geschlechter zu nehmen. In einem vielschichtigen Denkprozess wurde das Bedrohliche – aber auch Aufregende – des Neuen mit Männlichkeit verbunden. Und das Verlässliche – und Betuliche – der Tradition mit Weiblichkeit. Mit Männern wagte man sich an die Probleme, was sie als problematisch stigmatisierte. Mit Frauen blieb man auf sicherem Grund, was sie zu Hüterinnen reduzierte. 

Die Männer, Kaufleute, Gelehrte und Philosophen, wurden gedacht als besonders infiziert vom Neuen – und als dessen Ursache. Ihre Sinne vertrockneten angeblich, ihre Herzen erkalteten, weil sie wie Fabrikwaren in die Welt geworfen wurden. Ihre böse Natur sollte dazu passen, und sie passte sich an. So wurde Männern die Gier der Wirtschaft und die Machtlüsternheit der Politik als geschlechtsspezifisch unterstellt. Die unheimliche Moderne wurde männlich.

Als die Gedanken in der Welt waren, begannen sie die Geschlechter nach ihren Vorgaben zu formen. Frauen hatten in der Häuslichkeit die gefährliche Welt gut zu machen und galten schließlich als unfähig zu höheren Einsichten, Männer wurden bald als lieblose Störenfriede in der Familie marginalisiert. 

Besonders grausam traf es Homosexuelle. Kaum war der Mann als soziales Zentralproblem etabliert, galten zwei miteinander verbundene Männer als unerträgliche Bedrohung. So wandelte sich eine in Maßen tolerante Gesellschaft von der Mitte des 19. Jahrhunderts an zum Horror für Schwule. Und parallel dazu wurden die Heteros in immer schärferen Disziplinaranstalten eingehegt, in Internaten, Kasernen, Gefängnissen und Krankenhäusern.

Am Anfang der Männerskepsis steht also nicht eine problematische Männlichkeit, sondern eine als problematisch empfundene Gesellschaft, die verzweifelt nach einer Ursache ihrer Problematik sucht. Und diese in den Männern findet. Dabei war der Zusammenhang niemals streng, sondern immer vage, porös und provisorisch. Bis heute. Das große Irgendwie der Schuldzuweisung. 

Ähnlich grobschlächtig verläuft daher die Therapie. Denn am Manne versucht sich die Gesellschaft seither selbst zu therapieren. So avancierte der »Neue Mann« zum Notnagel. Vom Mann wird Selbstverbesserung in Permanenz verlangt, schließlich belegt jede neue (Finanz-, Welt-, Sinn-)Krise, dass seine jeweils letzte Veränderung unzureichend war.

Das frühe 19. Jahrhundert verdammte den Hagestolz, den Unverheirateten, weil er sich der Zivilisierung durch die Ehe entzog. Die erste Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts verstand sich dementsprechend auch als Reformprogramm von Männlichkeit und propagierte: »Stimmrecht für Frauen, Keuschheit für Männer« – das Erste, um endlich Moralität in die Politik zu bringen, das Zweite, um die wahllos hurenden Bürgermänner zu mäßigen. Die Weimarer Republik forderte einen »Neuen Mann« nahezu im Jahrestakt, besonders prominent ein Aufsatz in der Weltbühne 1925 (Titel: Der neue Mann), in dem es verheißungsvoll hieß, endlich entdecke auch der Mann die Liebe. Seit den 1960ern wird die Versionenzählung der jeweils neuesten Männlichkeit unübersichtlich, gefühlt sind wir beim Neuen Mann 47.0 angekommen – aber noch immer »lassen Männer lieben«, gelten sie als »Auslaufmodell« oder arbeiten die neueste »crisis of masculinity« ab, um Veröffentlichungen der letzten Zeit zu zitieren.

Unter der rein rhetorischen Überschrift Sind Frauen moralischer als Männer? konstatierte das Philosophie Magazin kürzlich: »Der Mann ist das problematische Individuum des 21. Jahrhunderts.« Ein Witz. Der Mann war auch das Problem des 18., des 19. und des 20. Jahrhunderts. Falls wir nicht schlauer werden, wird er auch das des 22. Jahrhunderts sein. Und daneben steht die Frau, von der es heißt, sie sei die Lösung, wenn der Mann sie nur ließe. Aber eine Lösung dafür, wie sie sich durchsetzen kann, hat sie noch nicht.

So hängen wir da, mit grotesk überzogenen Ansprüchen an den Erklärungswert von Geschlecht. Und zugleich mit einer Wirklichkeit, die durchwirkt ist von Geschlecht. Von dessen Überspanntheit und Unausweichlichkeit. Und schlagen uns mit den Folgeschäden herum. Dabei könnten wir schlauer sein.

Wann immer Wissenschaftler ausgezogen sind, grundlegende Differenzen zwischen den Geschlechtern zu finden, sind sie mit leeren Händen wiedergekehrt. Alle Versuche, Verhaltensunterschiede biologisch festzumachen, sind gescheitert, und auch die jüngsten Anstrengungen der »Neurosexisten«, ewiges Weib und ewigen Mann in den Hirnen zu finden, sind in einem Fiasko aus Widersprüchen und Unklarheiten gescheitert.

Statt stabiler Naturen finden Forscher etwas viel Irritierenderes: die federleichte soziale Erzeugbarkeit von Geschlecht. Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber auch innerhalb der Geschlechter, lassen sich bei Experimenten mit geringem Aufwand erzeugen. Oder nivellieren. Meist reichen wenige Worte. In ihrem exzellenten, gerade auf Deutsch erschienenen Buch Delusions of Gender (Die Geschlechterlüge) bereitet die Wissenschaftsautorin Cordelia Fine die Ergebnisse mit Akribie und Humor anhand vieler Beispiele auf. 

Männer gelten als begabter in visuell-räumlicher Vorstellung, was sich in Untersuchungen bestätigen lässt (und woraus sich Bestseller schustern lassen, die von den Einparkkünsten der Männer schwärmen). Sagt man Frauen hingegen vor einem Experiment, ihre räumliche Vorstellungskraft sei ebenso gut – dann verschwinden die Unterschiede zu den Männern. Sagt man Männern, sie seien schlechter – dann schneiden sie schlechter ab.

Frauen, so will es das Klischee, gelten als empathischer, versierter im Erkennen von Gefühlslagen. Es sei denn, man sagt Männern, sie seien darin ebenso bewandert – schon erweisen sie sich bei entsprechenden Tests als nicht minder feinfühlig. Mathematische Fähigkeiten? Männer im Schnitt besser. Es sei denn, man sagt Frauen, sie könnten es ebenso gut. (Ein wertvoller Tipp für Mathe-Lehrer.) 

Wissenschaftler nennen dieses Verfahren priming – die Impfung mit oder die Dämpfung von Stereotypen. Es scheint, dass die Effekte umso stärker sind, je subtiler das priming erfolgt, je beiläufiger der Abbau von Klischees. Auf der Strecke bleibt dabei jede Form von substanziellem, stabilem Unterschied zwischen den Geschlechtern.

Geschlechterverhalten entsteht nicht durch Hormone, es entsteht durch Worte. Durch das, was wir reden – und uns einreden. Wenn wir es uns lange genug einreden, kann es aussehen wie Natur. Aber selbst dann können wir es noch ausschalten, wie die Versuche zeigen. Nur tun wir das meist nicht. Meist schalten wir ein. 

Auch die Wirklichkeit fügt sich längst nicht mehr den stereotypen Formvorschriften der Geschlechterbilder. Sogar im Kern der vermeintlichen Unterschiede, bei Moral, Gewalt und Gier, häufen sich die Belege für ein Geschlechter-Patt.

Geschiedene Männer kommen ihren Unterhaltspflichten nicht immer nach? Ja. Aber wenn Frauen zahlen müssen, überweisen sie deutlich seltener, so eine Studie des Justizministeriums. 

Häusliche Gewalt ist vor allem Männersache? Nein. Sie wird von beiden Geschlechtern etwa zu gleichen Teilen ausgeübt, von Beschimpfungen über Schläge bis zum Einsatz von Waffen wie Küchenmessern. Studien zeigen seit den 1970er Jahren konstant, dass »Männer in einem nicht unerheblichen Maße« Opfer häuslicher Gewalt sind, wie der Politologe Peter Döge erst im vergangenen Jahr resümiert hat. Und dass Frauen »zu einem fast gleichen Anteil wie die Männer« Täter sind. Allerdings auf unterschiedliche Art. So misshandeln Frauen häufiger Kinder, Männer verursachen schwerere Verletzungen.

Frauen führen anders, demokratischer? Oft ist das Gegenteil der Fall, und manche Frauen greifen zu besonders autokratischen Methoden, wie eine Studie des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit 2009 ergab.

Frauen bereichern sich weniger? Nicht die weiblichen CEOs in den USA. Die verdienten im Jahre 2009 rund 43 Prozent mehr als der Durchschnitt ihrer männlichen Kollegen.

Frauen bilden weniger Seilschaften? Nicht jene Frauen, die in Norwegen »Goldröcke« genannt werden: Sie wurden durch eine gesetzliche Quote in die Verwaltungsräte gehievt, wo sie seither ein enges, lukratives Netzwerk bilden.

Solche Befunde dürfen nicht als Kritik missdeutet werden oder als Retourkutsche gegen Frauen. Nein, es sind gute Nachrichten. Sie unterwandern die Illusionen von der Geschlechterdifferenz. Männer und Frauen nutzen Gelegenheiten, suchen ihren Vorteil, sichern ihre Macht, streben nach Reichtum und booten andere aus, unterstützen oder traktieren einander – was auch sonst?

Die einzig plausible Einsicht, die aus den Gender-Wissenschaften zu ziehen ist, hat die Münchner Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken kürzlich in einem Interview im Philosophie Magazin eher beiläufig gezogen: »Es gibt keine Natur.« Männer haben keine, Frauen auch nicht.

Doch wo Natur nicht wirkt, wirken Worte. Deshalb hat der Sermon vom bösen Mann Auswirkungen. Deshalb ist es nicht gleichgültig, dass wir das antimaskuline priming tagtäglich vollziehen.

Seit 200 Jahren werden Männer unter dem Verdacht ihrer »Unmoral« sozialisiert. Das hinterlässt Spuren. Und schafft Gelegenheiten. Nach mehr als einem Jahrhundert ethischer Entkernung von Männlichkeit konnten die großen Vernichtungsbewegungen des 20. Jahrhunderts, Faschismus und Stalinismus, auf einen Fundus hinreichend demoralisierter Männer zurückgreifen – zumindest solcher, die in völliger Verrohung keinen Widerspruch zur kulturellen Beschreibung ihrer selbst sahen.

Im Kleinen werden Männer bis heute zum Kalkül genötigt, wie schlecht ein Mann sein muss, um ein guter Mann zu sein. Wie viel Devianz muss er aufbringen, damit er als echter Kerl gilt? Polizisten, Staatsanwälte und Richter haben sich längst darauf spezialisiert, die jeweilige Klischeetreue von Männern und Frauen zu prämieren: »Wenn das Strafrecht ein Geschlecht hat, und bei der Strafzumessung könnte dies der Fall sein, dann privilegiert es Frauen«, schreibt die Kieler Rechtsphilosophin Monika Frommel. Der Mainzer Jura-Professor Michael Bock konstatiert, die »selektive Behandlung und Diskriminierung« von Männern werde »kulturell als durchaus normal« angesehen, löse also keine Verwunderung aus. Und er zitiert einen Polizisten, der schildert, wie nach einem Einsatz bei tätlichen Ehestreitigkeiten verfahren wird: »Natürlich nehmen wir den Mann mit.« 

Kaum jedenfalls war die Idee der verworfenen Männlichkeit aufgekommen, wurden praktisch nur noch Männer bestraft, Frauen dagegen entkriminalisiert. Die Historiker Deborah Little und Malcolm Feeley sprechen vom mysteriösen und kaum erforschten »Verschwinden der Frauen« aus der Kriminalstatistik. Heute stellen Frauen nur rund fünf Prozent aller Gefängnisinsassen in Deutschland, eine weltgeschichtliche Minimalquote, in vormodernen Zeiten waren regelmäßig 30 bis 60 Prozent der Tatverdächtigen und Häftlinge weiblich. Worüber sagt unsere Gefangenenquote mehr aus: über Männer – oder über unsere Angst von der gefährlichen Männlichkeit?

Als Beate Zschäpe, Mitglied des Mordtrios Nationalsozialistischer Untergrund , im November 2011 verhaftet wurde, räsonierten etliche Kommentatoren darüber, ob eine Frau zu solchen Taten wirklich in der Lage sei. Oder ob sie nur verführt worden war – von den männlichen Tätern. Schon zu Zeiten der RAF betrachtete man die Fahndungsplakate mit den Fotos der TerroristInnen so schaudernd wie ungläubig. Frauen wurde und wird eben nicht das volle Maß moralischer Verantwortlichkeit gewährt. 

So schaden das Wort von der hässlichen Männlichkeit auch den Frauen. Die geringe Neigung, Vorstandsposten und andere Top-Positionen mit Frauen zu besetzen, dürfte nicht darin begründet sein, dass Frauen fachlich schlechter sein könnten. Nein, womöglich gelten sie als moralisch zu gut. Und damit als unbegabt für jene Kaltblütigkeit, die ein Konzernchef braucht, um notfalls eine mittlere Kleinstadt von Angestellten zu entlassen.

Dabei ist diese Besorgnis unbegründet: In Russland besetzen Frauen knapp die Hälfte aller Führungspositionen, und von Verweichlichung ist dort ebenso wenig zu spüren wie in der stark feminisierten Finanzbranche Hongkongs (übrigens, liebe Ausputzfrauen, dort sind die Renditeanforderungen und Risiken so maßlos wie im Männerrudel der Deutschen Bank). 

Eine wissenschaftliche Befragung von Lehrern, Sozialarbeitern, Jugendhelfern und Medizinern ergab, dass deren »Beschreibung von Männlichkeit(en)« durchgängig »latent oder ganz offen negativ bzw. mit Abwertungen versehen wurde« – und zwar in einem Ausmaß, das die Forscher Reinhard Winter und Gunter Neubauer 1998 als »erschreckend« bezeichneten. Ob die Pädagogen mit dem Düsterbild von Maskulinität eine Ausnahme bilden oder eher im Konsens liegen, blieb unerforscht.

Bekannt ist hingegen, dass Eltern ihren Söhnen ein deutlich engeres geschlechterspezifisches Verhaltenskorsett anlegen als ihren Töchtern. Die Geschlechtergrenzen würden bei Jungen viel strenger »patrouilliert«, fasst Cordelia Fine den Wissensstand zusammen, während Mädchen zum Überschreiten ihrer Grenzen »ermutigt« würden Töchter als Spielplatz-Rabauken – prima! Söhne in Ballettröckchen – wehe! Eltern verspürten bereits bei Kindergartenjungs die Notwendigkeit, deren angemessene Gender-Performance mit harter Hand zu überwachen, schreibt Fine, weil richtige Maskulinität als etwas erachtet werde, in das Arbeit investiert werden müsse.

Steckt darin der überkommene Impuls, die »gefährlicheren« Jungen an die Kandare zu nehmen? Und steckt in dieser Kandare zugleich die unterschwellige Aufforderung an den Sohn, dann bitte auch den Gefährlichen zu geben und das Problematische im Männlichen hinreichend zu inszenieren? Es soll doch kein Zweifel aufkommen an seiner Männlichkeit! 

Wir wissen es nicht, weil unter diesem Blickwinkel nur lückenhaft geforscht wird. Stattdessen herrscht ein großes Zögern, auch Jungen als Produkte ihrer Umwelt zu beschreiben. Eine der renommiertesten deutschen Bildungsforscherinnen, Hannelore Faulstich-Wieland, die einige aufschlussreiche Studien veröffentlicht hat über die Interaktions-Feinheiten, die Mädchen bei den Naturwissenschaften ins Hintertreffen geraten lassen, empfiehlt, Jungen sollten sich zur Überwindung ihrer Leseschwäche schlicht mehr »anstrengen«.

Die alte Logik: Frauen werden gemacht, Männer machen. Oder sie machen eben nicht. So oder so: selbst schuld. Und seien es Erstklässler.

So könnte und wird es wohl noch weitergehen. Der Abschied vom fatalen Männlichkeitsbild steht nicht zu erwarten. Nur ein komplettes Umdenken würde dessen Ende einleiten.

Dazu gehört, überhaupt erst einmal ein soziales Sensorium zu entwickeln für die vielen offenen und versteckten Formen der männerfeindlichen Ideologie. Und es gehören Forschungen dazu, um die historische Tiefendimension auszuloten, über die wir bislang kaum etwas wissen. Als wirkungsvollster Hebel dürfte sich – bedauerlicherweise – der vordergründig böseste erweisen: die Desillusionierungsarbeit am Weiblichen vorantreiben. Dafür sorgen bereits in hohem Maße die Erfolge des Feminismus; das klingt zynisch und ist doch nicht so gemeint. Je mehr Frauen endlich in bislang versperrte Positionen vordringen, als Kanzlerin, Bankerin, Chefin, Soldatin, Müllwerkerin, umso deutlicher wird, dass die Gesellschaft dadurch zwar fairer, darüber hinaus aber nicht besser wird. Die Probleme einer modernen Gesellschaft bleiben.

Denn das Weibliche rettet nicht. Das bedeutet: Das Männliche zerstört nicht. Wir haben die Welt 200 Jahre lang so eingerichtet, dass der gegenteilige Anschein entstehen konnte. Wir dürfen uns jetzt davon lösen.

Aber erst wenn wir Frauen genauso – Verzeihung – scheiße finden wie Männer, so unmoralisch, egoistisch, verantwortungslos, kommen wir auf die Idee, keines der Geschlechter mehr mit Etiketten zu versehen. Erst wenn wir Frauen alles zutrauen, auch das Böseste, machen wir sie zu ganzen Menschen. Wenn Humanität, dann auch die dunkle Seite. Erst wenn wir Männern nicht mehr nur das Schlimmste zutrauen, machen wir sie zu ganzen Menschen. Und geben den Blick frei auf Individuen.

Gerade aus diesem Grund wäre eine Frauenquote für Vorstände empfehlenswert. Wenn Aufsichtsräte und Aktionäre ein, zwei Jahrzehnte lang sehen, dass Frauen auch nichts anders machen als Männer, können sie endlich unabhängig vom Geschlecht entscheiden: und eine kalte, rücksichtslose Frau ernennen, wenn sie das Unternehmen umkrempeln wollen; und einen sanften, verbindlichen Mann, wenn es um den Betriebsfrieden geht. Oder umgekehrt.

Erst moralische Geschlechterparität erlaubt, die jeweiligen Benachteiligungen zu betrachten, ohne dabei einem Geschlecht einen Tätervorsprung und einem anderen einen Opferbonus einzurichten. Und stattdessen nach den jeweiligen, vermutlich komplexen Ursachen zu forschen für die skandalöse Unterrepräsentation von Frauen in den Chefetagen und die skandalöse Überrepräsentation von Jungen bei Schulversagern und von Männern in Gefängnissen. Für die hohe Rate von Missbrauch bei Mädchen und die hohe Rate von Misshandlungen bei Jungen. Für die Unterbezahlung von Frauen und die übermäßigen Todesfälle von Männern durch Kriege, gefährliche Berufe und Selbstmorde.

Moralische Gleichheit würde auch verhindern, dass eine Gleichstellungsbeauftragte, wie im vergangenen Jahr in Goslar, zum Rücktritt genötigt wird, weil sie auch für die Belange von Jungen und Männern einzutreten gedachte.

So ließe sich das große Werk des Feminismus vollenden. Dessen historische Leistung, die Benachteiligungen und die Stereotype des Weiblichen zu benennen und zu bekämpfen, wird oft von einer Bekräftigung der Stereotype des Männlichen begleitet. So hat die Bewegung es versäumt, eine andere Geschichte der Männlichkeit zu erzählen als jene, die um 1800 auf den Weg gebracht worden ist. Nun gilt es, mit dem Feminismus über ihn hinauszugehen, um auch das männliche Verhängnis des modernen Geschlechterdenkens zu enttarnen.

Man mache sich nichts vor: Der Widerstand gegen die ethische Waffengleichheit dürfte gewaltig sein. Es steht so viel auf dem Spiel. Die Gesellschaft müsste ihren Moralhaushalt neu organisieren. Die vage Reservemoralität, die wir im Weiblichkeits-Stereotyp bunkern, wäre obsolet. Die tröstliche Gewissheit, dass, wie schlimm es auch immer komme, die Ausputz- und Trümmerfrauen parat stehen, um den ganzen Mist der Männer zu beseitigen – sie müsste zerbröckeln. Und würde uns vermutlich fehlen. Bis wir so weit sind, diese Geschlechterlogik zu kippen, also übergangsweise, können wir uns mit der ältesten Kulturtechnik der Befreiung behelfen: mit dem Lachen.

Wenn eine machtbewusste Politikerin wie die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft Sätze wie diese äußert: »Wir Frauen sind einfach pragmatischer. Männer fürchten eher, in Konflikten ihr Gesicht zu verlieren. Das ist weniger ein Frauenthema. Wir nehmen uns selbst nicht so wichtig« – einfach lachen. Herzhaft, aus vollem Halse.

Wenn ein renommierter Wissenschaftler wie der Oxforder Psychiater Simon Baron-Cohen schreibt: »Das männliche Gehirn ist so ›verdrahtet‹, dass es überwiegend auf das Begreifen und den Aufbau von Systemen ausgerichtet ist«, was Männer zu besseren Anführern, Wissenschaftlern und Kriegern mache – dröhnend lachen, aus federndem Zwerchfell.

Lachen.

Weil es lachhaft ist.

 
Christoph Kucklick

Die Hexenjagd von Goslar

Im Mai jährt sich der Kulminationspunkt der Causa Goslar, der Tag, an dem Monika Ebeling ihres Amtes als Gleichstellungsbeauftragte enthoben wurde und in der Folge auch noch ihre Arbeit verloren hat, weil sie zu viel Empathie für Jungen und Väter zeigte. Das ist, auch wenn man es zum wiederholten Mal hört, immer noch unglaublich. In ihrem Buch „Die Gleichberechtigungsfalle“ hat Monika Ebeling die Ereignisse von damals eindrucksvoll geschildert und aufgearbeitet. Aber wie wurde aus dem Mädchen Monika die Frau Monika Ebeling, die wir heute kennen? Frau Ebeling will mit uns erstmals über diese Entwicklungsgeschichte erzählen. Machen wir dazu eine kleine Zeitreise durch die Geschlechterpolitik. Das Interview führte Dr. Bruno Köhler.

MANNdat: Sehr geehrte Frau Ebeling: Am 6. Juni 1971 erschien das Magazin "Der Stern" mit der Schlagzeile "Wir haben abgetrieben!" und einem Titelbild, auf dem sich 28 Frauen mit ihrem Foto öffentlich zu einem Schwangerschaftsabbruch bekannten. Diese Aktion wurde initiiert von der Feministin Alice Schwarzer. Sie löste eine emotional geführte gesellschaftliche Debatte über die Frage aus, ob und unter welchen Umständen eine Frau abtreiben darf. Sie waren damals noch ein junges Mädchen. Haben Sie diese Diskussion damals mit verfolgt?

Ebeling: Ich habe den Eindruck, dass es an der Zeit ist, dass insbesondere ältere und in der Sache erfahrene Frauen die Verantwortung für einige frauenpolitische Fehlentscheidungen der vergangenen Jahrzehnte übernehmen sollten. Die Weichen der Gleichstellungspolitik müssen neu gestellt und die Debatte könnte ehrlicher werden. Wir könnten die eingefahrenen Wege getrost verlassen, sie führen womöglich sowieso in die Irre. Mir scheint der bisher geführte Diskurs voll Verblendung und Ideologisierung zu sein.

Aber nun zu Ihrer Frage. Die straffreie Abtreibung und die Entscheidung, ab wann man von "Leben" und einem "Menschen" im Mutterleib reden sollte, gehen an mir, Gestern und Heute, nicht spurlos vorbei. Mit der aktuellen Debatte um das Klonen von Embryonen könnte das Thema sogar wieder Fahrt aufnehmen. Damals war ich ein junges Mädchen und musste mich natürlich zunehmend auch mit dem Thema Schwangerschaft beschäftigen. Wie die meisten jungen Menschen wollte ich eine Familie gründen und damit auch nicht lange warten.

Der § 218 nahm über längere Zeit viel Raum in der Frauenbewegung ein. Mir schien die politische Argumentation zum § 218 als junge unerfahrene Frau richtig, obwohl ein Beigeschmack blieb und ich inständig hoffte, niemals in eine Situation zu geraten, in der ich nur noch in der Tötung eines Kindes eine Lösung sehen würde. Wie ich höre, klagt unlängst der Verein alleinerziehender Mütter und Väter darüber, dass die rechtliche Stärkung unehelicher Väter angeblich dazu führen soll, dass vermehrt Frauen abtreiben wollen. Wäre eine solche Haltung schwangerer Frauen nicht schrecklich? Lieber soll das Kind abgetrieben werden, als das man sich mit dem Vater auseinandersetzt? Unser Bundespräsident meinte unlängst auf dem Kirchentag, dass es sich einige Menschen mit der Abtreibung vielleicht doch einen Tick zu leicht machen würden. Er spricht mir aus der Seele und deshalb sollten wir handeln.

Der § 218 und die Frauenbewegung haben mittlerweile Staub angesetzt, während sich die Gesellschaft rasant wandelt und der medizinische Fortschritt unaufhörlich wächst. Es gibt heute die Möglichkeit der pränatalen Diagnostik und man kann medizinische Eingriffe am ungeborenen Kind im Mutterleib vornehmen. Über das Blut der Schwangeren sind nicht nur erbliche Erkrankungen, sondern auch die Vaterschaft im Frühstadium einer Schwangerschaft eindeutig zu klären. Die Chance, so früh den Vater eines Kindes identifizieren zu können, sollten wir im Interesse des Kindes zu nutzen wissen. War es in der Vergangenheit nicht selten ein Problem, dass man die Mutter genau zuordnen konnte, aber den Vater nicht? Nun ist die Lösung da und Frauen haben Angst zuzugreifen.

Die künstliche Befruchtung macht es möglich, dass Frauen mit weit über dreißig, ja sogar mit fünfzig oder sechzig Jahren, mit hohem Risiko für Mutter und Kind, schwanger werden können. Frauen trotzen der Natur weit nach Ablauf der "biologischen Uhr" Kinder ab und nehmen sich inzwischen in Sachen Zeugung, Abtreibung und Mutterschaft oft alleinige und exklusive Rechte heraus. Das fühlt sich für mich teilweise so an, als wenn Männer aus diesem Geschehen ganz ausgeschlossen werden sollen. In diesem Kontext scheint mir die Frauenbewegung Männern und Kindern gegenüber mit einer Härte und Abfälligkeit aufzutreten, die ihresgleichen sucht. Sie versucht erfolgreich, mögliche Standpunkte der ungeborenen Kinder und der dazugehörigen werdenden Väter und Männer mit einem Handstreich wegzuwischen. Ich meine, es ist dringend erforderlich, die Väter in ihrer Rolle zu stärken. Männer müssen sagen, wie sie Vaterschaft leben wollen und sich für ihre Interessen stärker einsetzen. Aus Höflichkeit zu schweigen wäre falsch.

Heute fällt es vielen Frauen schwer, schwanger zu werden, selbst wenn sie es wollen und oft, weil sie es zu spät wollen. Die Gebärmutter ist gläserner geworden und die Signale des Ungeborenen stärker. Wir sollten auf die kindliche Stimme hören und bedenken, dass Kinder bereits vor der Geburt Rechte haben. Was würde dieses ungeborene, wenige Wochen alte Kind wollen? Eine Mutter klagte vor Gericht, weil ihrem wenige Tage vor dem Stichtag geborenen Frühgeborenen medizinisch nicht geholfen worden sei. Die Ärzte hätten helfen müssen, findet sie, denn sie hätte bei ihrem Kind Lebenswillen gesehen.

Aus meiner heutigen Perspektive muten mich die damalige Entscheidung für den § 218 und die folgenden Aktionen und Argumente zunehmend mittelalterlich an. Ich finde die vorgeburtliche Selektion ungeborener Menschen durch einige Frauen bedenklich. Mein "grünes Herz" wird bei so vielen medizinisch-technischen Eingriffen in die natürlichste Sache der Welt ganz schwach. Da tragen wir Biosandalen, Ökobaumwolle und essen vegetarisch, weil wir Tiere nicht töten wollen und scheuen uns nicht, im gleichen Atemzug abzutreiben oder dafür zu sein? Wie passt das zusammen?

Ich will, dass rund um den § 218 neu diskutiert wird! Wo bleibt hier die Inklusion der Kinderrechte? Wie könnten Väterrechte in diesem Kontext inkludiert werden und mehr Wertschätzung erhalten? Aus meiner Sicht beschränkt der § 218 die Gleichberechtigung von Mann und Frau und missachtet Kinderrechte.

Vom einstigen frauenpolitischen Credo in dieser Sache habe ich mich im Verlauf meines Lebens weit entfernt und das ist gut so. Heute kommt es mir so vor, als wenn die damalige Aktion im Stern eine große Lügengeschichte gewesen sein könnte. In ihrem Buch schreibt Alice Schwarzer „auch ich selbst unterschreibe, selbstverständlich, obwohl ich nie abgetrieben habe…denn bei dieser Selbstbezichtigung geht es ja nicht um ein persönliches Geständnis, sondern um eine politische Provokation“. (S 241) Stellt sie sich und den Stern dadurch als Lügner dar?

1975 fand das legendäre Rededuell zwischen Esther Vilar und Alice Schwarzer im WDR statt. Vilar und Schwarzer verkörperten zwei unterschiedliche feministische Ausrichtungen. Vilar vertrat einen Feminismus des Dialogs mit Männern und des gegenseitigen Verständnisses. Schwarzer dagegen präsentiert den Feminismus, wie wir ihn heute kennen – männerfeindlich, dialogunfähig und hochgradig aggressiv gegen Feminismuskritiker. Und sie nutzte auch schon die Strategie, Kritiker in die rechte Ecke zu schieben. Sie nannte Vilar eine Sexistin und Faschistin. Es ist die gleiche Vorgehensweise, wie sie heute von fanatischen Feministen in dubiosen „Expertisen“ über Feminismuskritiker praktiziert wird. Fast 40 Jahre danach erinnert sich Vilar:„Ich fand es nicht logisch, dass wir Frauen dauernd ein Geschlecht beschimpften, das sein ganzes Leben darauf ausrichtet, einen Beruf zu erlernen, um mit diesem Beruf dann für uns und unsere Kinder zu sorgen. Da lief etwas falsch. Dabei sind es die Frauen, die über die Rollenmuster der Geschlechter entscheiden, denn bei ihnen liegt die Erziehung, die frühe Prägung. Es ging gegen meine Würde, dass wir Frauen uns zu Opfern stilisierten.
Nach dem Interview wurde Vilar bedroht. Sie verließ das Land. Haben Sie damals das Rededuell wahrgenommen, und wie kam es bei Ihnen an?

An das Rededuell kann ich mich nicht erinnern. Ich bin erst wieder via YouTube darauf gestoßen. Die Diskussion um das Buch nehme ich allerdings deutlich in mir wahr. Die Dressur von Männern? Das kam mir damals irgendwie komisch, fast lächerlich vor. Ich konnte diese Dinge noch nicht zueinander bringen. Wie sollte es möglich sein, dass Frauen Männer wie kleine Pudel im Zirkus ´dressieren´ können und warum sollten sie daran Interesse haben? Ich wollte eine faire Beziehung mit dem Mann führen, den ich einmal lieben würde. Ich glaube als junge Frau war ich mit der Einschätzung dieser Angelegenheit noch etwas überfordert und überblickte die gesellschaftspolitische Tragweite nicht. Ich wusste ja noch zu wenig darüber, wie Beziehungen funktionieren und welchen Einfluss die eigene Sozialisation auf unser Leben hat.

Ich habe mich, wie viele Frauen, einfach auf die Seite der Frauenrechte beschränkt. Mir kam es so vor, als wenn ich durch diese Selbstbeschränkung, ja fast Einäugigkeit, für die Gesellschaft Gutes tue und für alle anderen armen unterdrückten Frauen gleich mit in die Bresche springe. Was kümmerten uns damals die Männer? Sie waren eine Last, von der wir uns irgendwie erleichtern sollten.

Also stärkte ich, wie viele meiner Geschlechtsgenossinnen, meinen frauenpolitischen Kampfgeist. Man hatte ja scheinbar auch die gesamte Frauenbewegung, wenn nicht sogar die gesamte ´Frauheit´ hinter sich. So jedenfalls wurde es uns Frauen in der einschlägigen Literatur und in den Frauennetzwerken weisgemacht. Wenn ich diesen Zeitabschnitt in meinem Leben aus heutiger Sicht analysiere, dann würde ich sagen, ich bin der Verlogenheit der feministischen Ideologie weitgehend zum Opfer gefallen. Ich habe mich instrumentalisieren lassen.

Als ich das später erkannte, begann ein schmerzhafter Prozess für mich.Ich dachte nach, änderte mein Verhalten und meine Argumente. Ich legte die feministischen Scheuklappen ab und wollte nicht mehr hinnehmen, dass ich zwar gegen die Diskriminierung von Frauen bin, allerdings die Diskriminierung von Männern toleriere und teilweise sogar richtig finde.

Heute lehne ich inzwischen den Frauenkampf gegen Männer konsequent ab. Ich habe den Eindruck, die frauenpolitischen und feministischen Argumentationsstränge enden rücksichtlos dort, wo ein Vorteil für alle Frauen oder eine einzelne Frau erreicht ist. Wer das nicht mitträgt oder kritisch sieht, wird geächtet.

In der Position der Gleichstellungsbeauftragten habe ich an keinem Tag einen Hehl daraus gemacht, wie ich denke, aber das wollten die Frauennetzwerke nicht hinnehmen. Ich galt in diesen Kreisen schnell als Nestbeschmutzerin. Ich beeinträchtige mit meinen Argumenten und Thesen wohl das Weltbild dieser Frauen. Eine sagte mal zu mir, ´dafür´ hätte sie nicht 25 Jahre gekämpft. Was für eine Aussage. Ein lebenslanger Kampf? Ich will das so nicht!

Ich wurde erst abberufen und verlor dann auch noch meinen Job als Kita-Leitung, weil man mir plötzlich alles Mögliche vorwarf und dabei auch sehr persönlich und disqualifizierend wurde. Diese Art ´Abstrafung´ durch Mobbing ist eine Erfahrung, die man keinem wünscht. Entgegen der eigenen Haltung sich für Frauen einzusetzen, hatte ich plötzlich Frauen gegen mich und die nahmen sogar meine berufliche und persönliche Demontage hin. Soviel zur vielgepriesenen Frauensolidarität.

Ähnlich wie mir ergeht es inzwischen auch anderen mir bekannten Menschen, die feministische Dogmen in Frage stellen, diskutieren möchten oder andere Wahrheiten verkünden. In Norwegen ist derzeit die Rede davon, dass es verboten werden soll, sich feminismuskritisch zu äußern. Das finde ich undemokratisch. Auch hierzulande gehen gewisse Frauen und Männer ja gleich hoch wie eine Rakete, wenn man es wagt, einen frauenpolitischen Standpunkt in Frage zu stellen. Das sind dann oft auch die, die sich auf Friedenskundgebungen tummeln.

Es gibt Menschen, die bereits davon sprechen, dass wir auf dem Weg in ein Matriarchat sind und die zukünftigen Machthaberinnen gehen durchaus nicht zimperlich mit ihren männlichen ´Untergebenen´ um. Was mir da so zu Ohren kommt, ist haarsträubend.

Tendenziell kann man Matriarchate schon in etlichen Lebensbereichen sehen. In der Leiharbeit zum Beispiel. Da werden überwiegend junge und ungebildete Männer von überwiegend sehr geschäftstüchtigen Frauen vermarktet und ungeniert ausgebeutet. Es ist auch spürbar im Bildungswesen, in dem Jungen vielleicht deshalb verlieren, weil das überwiegend weibliche pädagogische Personal sich wenig auf deren Bedürfnislagen einstellt. Matriarchate breiten sich aus, wer mag das bestreiten? Feministen wird das freuen.

Vom Ende der Männer zu sprechen, wie Hanna Rosin u. andere es machen, erscheint mir mittlerweile nicht mehr abwegig. Aber keinesfalls möchte ich als Frau in einem Matriarchat leben und dann womöglich die gleichen Fehler machen, die ich den patriarchalen Männern einmal vorgeworfen habe. Wir steuern auf eine geschichtlich gesehen überaus imposante Zeit zu.

1980 gab es die erste Frauenquote, und zwar führten diese die Grünen ein. Das war ohne Frage eine Zäsur in der Frauenbewegung. Die Frauenbewegung, die ja geschlechterspezifische Diskriminierung beseitigen wollte, bediente sich genau dieses Mittels der Diskriminierung. Diese Doppelmoral ist bis heute ein Charakteristikum des Politfeminismus. Was erlebten Sie zu Beginn der 80er Jahre? Wie standen Sie damals zur Frauenquote?

Damals war ich frisch verheiratet und gebar mein erstes Kind. Die Ultraschallbilder, die meine Babys zeigten, sind kaum vergleichbar mit den tollen Aufnahmen heute. Mein Mann war mit im Kreissaal, das war uns wichtig. Das nächste Kind habe ich dann zu Hause entbunden. Ich denke, wir waren eine tolle kleine Familie. Mit meinem Mann arbeitete ich als Hauseltern in einer therapeutischen Wohngemeinschaft für drogenabhängige junge Männer, und wir betreuten bereits unsere ersten Pflegekinder. Wir waren dabei, unser Leben und unsere Familie aufzubauen und herauszufinden, was jeder von uns dazu beisteuern könnte, dass wir ein gutes und zufriedenes Leben führen könnten.

Ich dachte damals, die Frauenquote könnte nicht schaden, und wenn die prominenten Frauenkämpferinnen diese als ein geeignetes Mittel sehen, dann werden sie wohl ausführlich darüber diskutiert und nachgedacht haben. Die Frauenquote war für eine junge Mutter zu weit weg, ich hatte einfach wichtigeres zu tun.

Heute kann ich über die Frauenquote nur den Kopf schütteln. Sicher, wenn Frauen an die Macht wollen, dann müssen sie auch dort arbeiten, wo es Macht zu verteilen gibt. Wenn Sie am Kapitalmarkt agieren wollen, dann müssen Sie Kapital erwirtschaften. Das ist aus meiner Perspektive allerdings eine ziemlich elitäre Sachlage. In meiner Zeit als Gleichstellungsbeauftragte in Goslar habe ich mich gefragt, ob ich mich nun tatsächlich für sehr gut ausgebildete, selbstbewusste und perfekt sozialisierte Frauen einsetzen sollte. Ich habe mich dagegen entschieden, weil ich diesen Frauen ausreichend Kraft und Mut zutraue. Mein Augenmerk will ich auf die Gleichstellungsbedürfnisse von bedürftigen Frauen und Männern legen.

Man darf nicht vergessen, dass Demokratie und der relative Wohlstand in unserem Land noch ein junges Unternehmen sind. Es ist noch nicht lange her, dass auch bei uns feudale und sogar diktatorische Zustände herrschten. Lange Zeit hatten die meisten Menschen nichts zu sagen und waren arm wie Kirchenmäuse. Das ist der Boden, auf dem Demokratie und Menschenrechte heute gedeihen müssen.

Meiner Meinung nach ist die Quote gar nicht nötig. Die jungen Frauen sind bereits auf natürlichem Weg in die Vorstandsetagen. Da sollte man nichts erzwingen, sondern darauf vertrauen, dass sich Frauen und Männer, deren berufliches und persönliches Profil passt, ihren beruflichen Weg dorthin bahnen werden, wo sie hinwollen.

Wer die Frauenquote fordert, wünscht sich die Hilfe von Vater Staat. Vielleicht hat die ganze Gleichstellungsdebatte sogar sehr viel mit dem Vaterthema zu tun. Mir ist aufgefallen, dass ein nicht unerheblicher Anteil von sogenannten ´frauenbewegten´ Frauen ein problematisches Vater- und Männerbild haben. Ich bin gegen die Frauenquote. Ich glaube, wir verschwenden hier unsere Energie.

1985 dann der Klassiker »Typisch Mädchen« von Marianne Grabrucker. Darin heißt es: » [...] die Anerkennung der Mädchen kann nur auf Kosten der kleinen Buben geschehen.« Damit hat Grabrucker genau die geschlechterspezifische Bildungspolitik formuliert, wie wir sie heute erleben: Mädchenförderung auf Kosten der Jungen. 100 Mädchen-MINT-Förderprojekten stehen heute nur 4 Jungenleseförderprojekte gegenüber. Und die Jungen, die im MINT-Bereich auch eine Förderung nötig hätten, werden rücksichtslos zurückgelassen.
Die Frauenzeitschrift EMMA legte 1986 nach: »Wenn wir wirklich wollen, dass es unsere Töchter einmal leichter haben, müssen wir es unseren Söhnen schwerer machen.« Dann ging es Schlag auf Schlag: 1986 wurde das erste Frauenministerium unter Leitung von Rita Süssmuth, CDU, eingerichtet. Danach zogen die einzelnen Bundesländer nach. Gleichzeitig kamen die Frauenbeauftragte in die Städte und Kommunen. Am 1. Juli 1986 stellte z.B. die Stadt Karlsruhe als eine der ersten Städte in Baden-Württemberg eine Frauenbeauftragte ein.

Bis heute ist Geschlechterpolitik ausschließlich Frauenförderung geblieben. In den Gleichstellungsstellen der Kommunen führt man regelrecht Wettbewerbe durch, wer die meisten und härtesten „Jungen-müssen-draußen-bleiben-Aktionen“ oder das nachhaltigste Väter-Gewalt-Tüten-Bashing betreibt. Als Sie fast 30 Jahre später einen emphatischen Ansatz in ihrer Funktion als Gleichstellungsbeauftragte einführten, sollte Sie das am Ende Amt und Job kosten. Erinnern Sie sich noch an die erste Frauenbeauftragte, die Sie kennengelernt haben? Wie erlebten Sie diese frauenpolitische Offensive gegen Jungen und Männer?

Eine Fachkraft, die sich ausschließlich um die Belange von uns Frauen kümmern sollte, schien mir damals dringend notwendig. Es war auch eine sehr schöne Wertschätzung der sogenannten frauenpolitischen Anliegen. Ich hatte einige Male privat und beruflich Kontakt mit Frauenbeauftragten und auch mit Frauenhäusern. Da arbeitet man wie in einem Geheimbund. Dieser Eindruck hat sich während meiner Zeit als Gleichstellungsbeauftragte noch verstärkt. Ich hätte immer schön der gleichen Meinung sein und mitheulen sollen, dann hätten mich die Frauennetzwerke gestreichelt und vielleicht sogar bewundert. Diese ´Streicheleinheiten´ könnten vielleicht die Motivation mancher Frauenkämpferin sein, hier mitzumachen.

Heute frage ich mich, warum Politik ein Geschlecht haben muss und sehe die negativen Auswirkungen dieser Exklusivität. Schauen Sie sich die Homepages der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten einmal näher an. Das strotzt nur so von Männerdiskriminierung.

Ich habe die Entwicklungen für uns Frauen immer sehr verfolgt, allerdings stets unter der Maßgabe, ob sich für Frauen etwas verbessert, ob wir Vorteile oder besondere Aufmerksamkeit bekommen. Auswirkungen auf Dritte haben dabei wenig interessiert.

Vor einiger Zeit las ich einen Artikel im Zeit Magazin . Eine englische Ex-Frauenbeauftragte wurde dort mit einer Wortneuschöpfung zitiert: ´Feminizissmus´. Sie zog die Worte Feminismus und Narzissmus einfach zusammen. Viele Frauen haben mit ihren teilweise überzogenen sogenannten frauenpolitischen Ideen und Forderungen eine unaufhörliche Nabelschau betrieben. Das Ausmaß an Eigennutz, Selbstsucht und Exklusivität dieser ganzen Frauenbewegung war mir als junge Frau nicht klar. Kein Wunder. Ich profitierte ja selbst von diesem gesellschaftspolitischen Wellness-Programm für Frauen. Niemand wird den Ast, auf dem er sitzt, absägen wollen. Mittlerweile ist ein profitabler Geschäftsbereich entstanden. Es wäre eine politisch brisante Zäsur, diesen plötzlich abschaffen zu wollen. Aber ich glaube, es muss sein!

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich beim Männerbashing eine Zeitlang auch mitgemacht habe. Männer abzuwerten, ihre persönlichen Leistungen und ihren gesellschaftlichen oder familiären Beitrag schlecht zu machen, ist eine perfide ideologische Strategie, aber sie funktioniert immer noch und scheint zum durchgängigen Prinzip geworden zu sein. Diese Lästereien über die Unzulänglichkeiten von Männern sind ja auch heute noch an der Tagesordnung. Anstatt uns gegenseitig zu helfen, werten wir einander ab. Ein solches Verhalten ist destruktiv und sollte keinesfalls zur Politik erhoben werden dürfen.

Ich war zu der Zeit Mutter von insgesamt 5 Kindern, studierte Sozialarbeit und begann mich in der SPD zu engagieren. Das Private ist politisch, hieß es, also bemühte ich mich die Politik zu verstehen und hoffte meinen Beitrag leisten zu können, wenn ich mich vor Ort politisch engagiere. Immerhin, ich kandidierte damals bei einer Kommunalwahl auf den hinteren Plätzen, saß in Fraktionssitzungen und führte eine Frauengruppe. Ich war Delegierte für Parteitage. Ich merkte sehr schnell, dass Politik ein mühsames und träges Geschäft ist. Das läuft meinem Naturell und meinem lösungsorientierten Denken leider zuwider.

Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass ich meine Mitgliedschaft in der SPD aufgebe und austrete. Mit diesem Gedanken trage ich mich schon länger. Ich sehe dort niemanden, mit dem ich mich politisch verbünden könnte. Da sind mir tatsächlich ein paar Politiker aus der CDU und der FDP inhaltlich näher.

Anfang der 1990er Jahre gibt es die ersten Frauenförderprogramme durch Bundesländer, und EU. Ebenfalls Anfang der 90er Jahre häufen sich spektakuläre angebliche Kindesmissbrauchsfälle. Beispiele sind der Montessori-Prozess und die Wormser Prozesse. Der „Missbrauch des Missbrauchs“ war geboren, eine wirksame Waffe im Sorgerechtskrieg.
Sabine Rückert hat das Thema in ihrem Buch "Unrecht im Namen des Volkes" verarbeitet: "Die wahnhafte Fixierung auf den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen erfasste in den neunziger Jahren die gesamte Gesellschaft, hielt Einzug in Familien, spielte bei Scheidungsverfahren eine immer größere Rolle und fand ihren Weg zu Kinderärzten, in Schulen, in die Jugendämter, in die psychiatrischen Stationen, die Untersuchungszimmer der Gerichtspsychologen und die Büros sonst so sachlicher Staatsanwälte und Richter." Sabine Rückert: Justizirrtum: Inquisitoren des guten Willens , Die Zeit 3/2007, 11. Januar 2007.
Der Missbrauch mit dem Missbrauch – auch heute noch aktuell?

Mehr denn je. Falschbeschuldigungen von Männern werden Frauen sehr einfach gemacht und das scheint mir politisch toleriert. Unsere Politiker müssen die rosarote Frauenbrille aufgehabt haben, als sie gewisse Gesetze zum ausschließlichen Vorteil von Frauen verabschiedeten. Die Exekutive lässt sich frauenpolitisch instrumentalisieren und scheint sich nicht nur in Einzelfällen zum Handlanger einseitiger Parteilichkeit für Frauen machen zu lassen. Der Judikativen fällt oft auch nichts Besseres ein, als der Frau und Mutter ohne Beweise zu glauben und auf bloße Behauptungen hin Urteile gegen Männer zu fällen.

Vor dem Gesetz sind alle gleich, heißt es, doch dieser Grundsatz wird teilweise ausgehebelt. Über Jahrzehnte ist die Idee des bösen Mannes von den Frauennetzwerken geschürt worden. Fremdbeschuldigung und Selbstmittleid breiten sich unter Frauen aus. Diese böse Saat trägt mittlerweile bittere Früchte. Aber ich habe den Eindruck, dass es immer mehr Menschen gibt, die merken, dass hier etwas falsch läuft. Weibliche Selbstverantwortung und Selbsterkenntnis bleiben auf der Strecke, wenn Frauen permanent auf Männer zeigen und ihnen Schuld in die Schuhe schieben.

Anfang der 1990er ließen sich viele Pärchen in meinem Umfeld scheiden. Das war wie ein Zwang, wie ein Trend oder eine Mode und fast schon unheimlich. Es kam, wie es kommen musste. Mein Mann und ich trennten uns ebenfalls. Ich war über ein paar Dinge sehr traurig, aber ich wünschte ihm Glück für seinen neuen Lebensabschnitt. Auf meinen Unterhalt habe ich verzichtet, weil ich der Meinung bin, dass eine gesunde Frau mit einer Ausbildung für sich allein sorgen kann und das auch muss. Insofern finde ich die neue Unterhaltsregelung richtig. An der finanziellen Nabelschur eines Mannes wollte ich nicht liegen, sondern mein eigenes Geld verdienen.

Wir haben nach einer Phase der Trauer und der Verarbeitung der Trennung schon bald wieder gute Dinge miteinander erlebt. Die Hochzeiten unserer Mädchen und manche Grillnachmittage, an denen herzlich gelacht wurde. Vor einiger Zeit hatte ich Gelegenheit, mich bei meinem damaligen Mann zu entschuldigen für mögliche und unnötige Verletzungen, die ich ihm damals womöglich zugefügt haben könnte. Ich wusste es damals leider noch nicht besser. Es gab ja kaum passende konstruktive Scheidungsrituale, so wie es heute auch noch kaum Rituale für Kinder und Väter gibt, die sich wegen einer Scheidung und schlechter Gesetzgebung Jahre oder Jahrzehntelang nicht sehen konnten. Auch hier ist Handlungsbedarf.

Die Jahre nach meiner Scheidung, als alleinerziehende Mutter und mit großen Zeitfenstern ohne erfreuliche Beziehung mit einem Mann, waren mir eine wichtige, aber auch schwere Lebenserfahrung, die ich in meinem nächsten Buch möglicherweise teilweise beschreiben werde. Hier versteckt sich eine große feministische Lüge, auf die viel zu viele Frauen noch heute leichtfertig reinfallen, wie Lemminge, die sich freiwillig einen Abgrund runterstürzen.

1995 beschließt der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates ein Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz, das die Bestimmungen des BVerfG berücksichtigt und eine Fristenregelung bei vorgeschriebener Beratung beinhaltet.
„Mein Bauch gehört mir“ war das Motto. 17 Jahre später, beim Gesetz zur Beschneidung von Jungen, ist der Bundestag nicht so zimperlich bei der Aberkennung des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper. Hängt das Recht auf Selbstbestimmung nur von der Größe der Lobby ab, die hinter den Betroffen steht?

Ich finde, wir lassen junge Mütter mit sehr viel Verantwortung sehr allein, wenn wir ihnen die Möglichkeit einräumen, 12 lange Schwangerschaftswochen über Leben und Tod eines Menschen befinden zu dürfen. Das Kind ist wehrlos und arglos und dann so etwas. Zweifelsohne gehört der Bauch der Frau, der Samen dem Mann und Kinder nur sich selbst. Die körperliche Unversehrtheit sollte uns in jedem menschlichem Lebensabschnitt ein hohes Gut sein.

Diese ganze Abtreibungsgeschichte ist wohl nur deshalb möglich geworden, weil es dem Zeitgeist entsprach und eine entsprechend große Lobby mobilisiert werden konnte. Das war damals eine große mediale Kampagne. Im politischen Geschehen gehört Lobbyarbeit zur Tagesordnung. Politiker und Lobbyisten gehen oft Hand in Hand in Berlin an der Spree entlang. Viele Männer haben eine feministische Lobbyistin an ihrer Seite, manchmal im Bett und manchmal am Arbeitsplatz. Das schafft unter Umständen auf Dauer willfährige männliche Duckmäuser.

Ich stehe für Menschlichkeit und Kinderrechte, deshalb bin ich gegen die Abtreibung. Was hätten in diesen 40 Jahren für tolle Kinder geboren werden können, aus denen engagierte Erwachsene und Bürger geworden wären! Menschen, die heute möglicherweise bereits fehlen.

Ich bin gegen die Beschneidung von kleinen Mädchen und kleinen Jungen. Es wäre gleichstellungspolitisch inkonsequent, da einen Unterschied nach Geschlecht zu machen! Unser Grundgesetz schützt auch diese Kinder, es müsste nur angewandt werden. Mir kommt es so vor, als hätte es System, für Mädchen und Frauen etwas zu fordern, was man Jungen und Männern bewusst versagt. Der Gott, an den ich glaube, wäre gegen jede Form der Beschneidung.

Zu jener Zeit arbeitete ich gerade in einem Kinderheim, in der psychiatrischen Nachsorge. Dort wurden so gut wie ausschließlich kleine Jungs im Alter von 6 bis 16 Jahren betreut. Es war mir zuwider, diesen Kindern Psychopharmaka verabreichen zu müssen, deshalb habe ich mir auch bald eine andere Tätigkeit gesucht.

In der Beratung von Frauen hörte ich ständig, dass deren kleine Söhne ADHS hätten. Wenn ich nachfragte, stelle ich fest, dass dies nur Vermutungen von Erzieherinnen, Freundinnen oder der Mutter selbst waren. Ärztlich diagnostiziert war ADHS oft nicht und wenn, dann nicht von Fachärzten. Mir kamen kleine Jungs bereits damals stigmatisiert vor. Ich war schwanger mit einem Sohn. Ich freute mich darüber sehr, aber mir graute vor all den bösen Erfahrungen, die dieser Junge und Mann möglicherweise machen wird. Heute weiß ich, das Jungen und Männer qua Geschlecht diskriminiert werden, weil ich das glaubwürdig in meinem Umfeld erlebe und es mir von Dritten ebenso glaubwürdig berichtet wird. Meinen weiblichen und männlichen Nachkommen und allen anderen Menschen wünsche ich ein besseres Miteinander, deshalb rede ich über diese Dinge.

2001: Das neue Jahrtausend startet mit einer weiteren Großoffensive gegen Jungen und Männer:  Die Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse zeigt zum ersten Mal der Öffentlichkeit, dass auch Jungen in der Schule Nachteile haben. Die schlechte Lesekompetenz wird quasi über Nacht zum Kernthema der Bildung. Im gleichen Jahr wird der bundesweite Zukunftstag für Mädchen eingeführt. Für Jungen gibt es nichts. Die Ausgrenzung von Jungen wird somit zum Leitbild geschlechterspezifischer Bildungs- und Jugendförderung – und sie ist es bis heute geblieben. Der erste Frauengesundheitsbericht der Bundesregierung erscheint. Bis heute gibt es keinen Männergesundheitsbericht der Bundesregierung.
Der Bundestag verabschiedet am 8.11.01 einstimmig den Entwurf zum so genannten Gewaltschutzgesetz , das am 1.1.2002 in Kraft tritt. Damit wird der Polizei ermöglicht, Tatverdächtige bei häuslicher Gewalt der Wohnung zu verweisen. Das Gewaltschutzgesetz war von Anfang an auch bei Fachleuten umstritten. Dr. Doris Kloster-Harz, Fachanwältin für Familienrecht aus München, weist auf die Möglichkeiten der Erpressung des Partners hin, die das Gesetz dem (vermeintlichen) Opfer bietet.
Der Kriminologe Prof.Dr. Dr. Michael Bock meinte in seinem Gutachten: „Das neue Gewaltschutzgesetz stellt den ausgrenzenden Müttern ein erheblich einfacheres Werkzeug zur Trennung der Kinder von den Vätern zur Verfügung. Die bekannten Rituale der Umgangsvereitelung werden um die falsche Gewaltbeschuldigung erweitert. Das Gewaltschutzgesetz fördert nicht den konstruktiven Dialog der Geschlechter, sondern ist ausschließlich auf Enteignung, Entmachtung, Ausgrenzung und Bestrafung von Männern gerichtet. Sein Ziel ist nicht, häusliche Gewalt zu bekämpfen, sondern nur Männergewalt. Geschützt werden sollen nicht alle in häuslicher Gemeinschaft lebenden Menschen, sondern nur Frauen.“ Wie hat bei Ihnen das neue Jahrtausend begonnen? Wie erlebten Sie diese Zeit?

Als Kind erschien es mir noch Ewigkeiten zu dauern, wenn man vom neuen Jahrtausend sprach. Zwei Weltkriege im Rücken, den kalten Krieg vor der Nase, das ließ nicht gerade Vorfreude aufkommen. Das neue Jahrtausend fühlte sich für mich als Kind wie ´schöne neue Welt´ an und hatte was von Science Fiction. Dann kam es eher unspektakulär daher. Ich glaube wir haben noch gar nicht begriffen, wie weit wir uns der schönen neuen Welt tatsächlich schon genähert haben, weil wir so geblendet sind von den vielen bunten Bildern und scheinbaren Möglichkeiten, die uns täglich umlauern. Es ist heute schwer, den gesunden Menschenverstand zu behalten.

Zum Jahrtausendwechsel hatte ich ja dann schon jahrelang gehört, dass Männer die Täter und die Bösen sein sollen. Ich fühlte mich als Teil dieser großen Welterneuerung, in der Frauen an die Macht kommen und wir uns für Jahrtausende währende Unterdrückung durch Männer revanchieren würden. Doch schon damals bröckelte dieses Weltbild, hatte Risse und wies aus meiner Sicht Ungereimtheiten auf. Ich bekam die feministischen Phrasen immer weniger mit dem zusammen, was ich beruflich und persönlich erlebte.

Die Sache mit dem Gewaltschutz ist ein schönes Beispiel für diesen einseitig parteilichen frauenpolitischen Unsinn. An der Einstimmigkeit im Parlament merkt man, dass es um ein Tabuthema gehen muss. Niemand wagt Widerspruch, Einspruch oder Gegenrede. Als ich einstimmig zur Gleichstellungsbeauftragten berufen wurde, war mir das irgendwie suspekt. Es gibt doch sonst keine einhellige Meinung zwischen den Parteien. Kein Parlamentarier möchte sich aber den Makel der Frauenfeindlichkeit damit verdienen, dass er eine hinterfragende Haltung zu diesem Gesetz einnimmt oder nach 10 Jahren einmal nachfragt, ob da nicht nachgebessert werden müsste. Ich meine, es muss nachgebessert werden!

Im Wohnzimmer sprechen Polizisten unbefugt Recht, urteilen ab und schicken in regelmäßiger Einfalt Männer aus dem Haus. Der Vorwurf, gegen eine Frau Gewalt ausgeübt zu haben, wiegt schwerer, als die Unschuldsvermutung und klebt wie ein altes Kaugummi am Mann fest. Es macht aber krank, unschuldig zum Schuldigen gemacht zu werden. Ich habe schon viele Männer gesehen, die dadurch in kürzester Zeit körperlich und seelisch abbauten und am Ende persönlich und beruflich ruiniert waren. Es muss etwas faul sein an diesem Gesetz und seiner Handhabung. Die Macht der Frauen ist grandios geworden. Dort darf eine Frau ein Kind aus ihrem Bauch hinauszutreiben und hier ist es ihr leichtfertig möglich, einen Mann durch Falschbeschuldigung komplett zu zerbrechen. Eine tödliche Effizienz, die eine Frau zur Waffe machen könnte.

In unserem Land gibt es einen bundesweiten Aktionsplan gegen Gewalt gegen Frauen. Aus meiner Sicht brauchen wir einen solchen Aktionsplan nicht, weil wir demokratische Grundrechte und eine gute Infrastruktur haben, um Frauen in Not helfen zu können. Diese Infrastruktur wiederum fehlt, wenn Männer in Not geraten. Es müsste ein Aktionsplan gegen häusliche Gewalt sein, der geschlechtsneutral und ohne feministische Scheuklappen agiert.

In den Ausstellungen zu häuslichen Gewalt und bei den einschlägigen Aktionen spricht man mit regelmäßiger Abfälligkeit von Frauen als Opfern und Männern als Tätern, aber von Polizistinnen und Polizisten, Richterinnen und Richtern usw. Man spielt den Anteil der Frauen an der häuslichen Gewalt herunter und bläht den der Männer fälschlicherweise auf. Das stinkt zum Himmel.

Der Girls-Day brauchen wir nicht wirklich. Das ist viel Geld und Aufwand, um kleinen Mädchen eine schöne Zeit außerhalb der Schule zu bereiten. Ist einmal evaluiert worden, ob dieser Einsatz von Steuermitteln nachhaltige Ergebnisse erzielt? Alle Schüler haben das Thema Mann und Frau im Arbeitsleben doch sowieso im Lehrplan. In unserem Land kann jeder werden was er will, wenn er die nötigen Voraussetzungen mitbringt. Wem das verwehrt werden sollte, der kann Rechtsmittel einlegen.

Wir haben nun schon 40 Jahre lang versäumt, die Gleichstellungsbedürfnisse von Männern zu beachten und eine mögliche Diskriminierung aufgrund des männlichen Geschlechtes negiert. Das ist ein Gender Gap. Wir schossen mit Kanonen ein Dauerfeuer auf männliche Spatzen ab, weil uns die radikalen Frauenkämpferinnen weismachen konnten, dass Frauen schon immer und noch heute von Männern beherrscht und unterdrückt seien. Vielleicht haben wir auf diese Weise das Glück unserer Söhne, Männer und Väter mit Füßen getreten und sie mit Missachtung gestraft. Wollen wir nun auch noch auf dem Leid der Männer die schöne neue Frauenwelt aufbauen? Das wird nicht gutgehen, weil es niemals ein gutes Ende nimmt, wenn man sich auf dem Unglück anderer ein schönes Leben machen möchte.
Ich möchte meine Töchter und Söhne gleich behandelt wissen. Das steht für mich außer Frage.

2010 entfachte die Deutsche Telekom durch die Einführung einer Frauenquote die Diskussion um Frauen in Führungspositionen neu. Einerseits das Gejammer wegen Fachkräftemangels – andererseits leistet man sich den Luxus, Fachleute nach Geschlechtsteilen auszusuchen. 2011 dann die „Hexenjagd von Goslar“. Der Vorfall ist in Ihrem Buch „Die Gleichberechtigungsfalle“ ausführlich beschrieben. Wir können dieses Buch wärmstens empfehlen, zeigt es doch eindrucksvoll, wie wirksam und rabiat heute feministische Netzwerke funktionieren.
Wie geht es Ihnen heute, 2013? Hat Sie die „Hexenjagd von Goslar“ wieder eingeholt? Werden Sie noch verfolgt oder können Sie heute in Ruhe Ihre neue Existenz genießen?

Ich bin ein bisschen stolz auf das, was wir erreicht haben. Mit ´wir´ meine ich all die Frauen und Männer, die sich für Menschen einsetzen, die diskriminiert werden, weil sie eine Frau oder ein Mann sind. Inzwischen ist es nicht mehr so einfach, einen gesellschaftlichen oder politischen Schulterschluss für Frauenthemen zu finden. Früher hätte ich  das als Niederlage empfunden, heute weiß ich, es führt kein Weg um die Inklusion der Männer in die Gleichstellungspolitik herum, sonst wird unsere Gesellschaft den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.

Wer aufmerksam hinschaut und zuhört, kann einen Wandel wahrnehmen. Die Öffentlichkeit ist den Gleichstellungsbedürfnissen der Männer gegenüber sensibler geworden. Männer werden öfter inkludiert als früher. Gott sei´s gedankt, finden sich auch noch Akteure, die ihren Mund aufmachen, Männer, die ihre diskriminierenden Geschichten und Gewalterfahrungen erzählen und sich nicht dafür schämen.

Die letzten Bastionen der Retrofeministinnen werden einstürzen, weil dieses ideologische Widerkäuen und der fast schon religiös anmutende Singsang der Argumente auf Dauer keinen Bestand haben werden. Söhne und Töchter, Frauen und Männer sind klug und erfahren genug zu erkennen, dass sie nur gemeinsam die großen Probleme unserer Zeit werden lösen können. Den Kampf Frau gegen Mann können wir uns in vielfacher Hinsicht nicht mehr leisten. Er ist so unnötig wie ein Kropf und schadet unseren Kindern.

Mir kommt es so vor, als wenn ich für gewisse soziale Arbeitsbereiche ´gebrannt´ bin. Seit einem Jahr bin ich auf meinem neuen Arbeitsplatz als Kita-Leitung und merke, wie mich die Causa Goslar wieder einholt. Die Hexenjagd wirkt nach, weil es an vielen Orten Frauen gibt, die den Gezeitenwechsel nicht wollen. Jetzt suche ich einen Arbeitgeber, dem mein berufliches und persönliches Profil willkommen ist. Inzwischen nutze ich die Zeit zur Erholung und schreibe an meinem nächsten Buch. Den Tag meiner Abberufung feiere ich mit einem Glas Sekt und einer dicken Zigarre.

Auf Ihr neues Buch sind wir sehr gespannt. Vielen Dank für das Interview. Wir wünschen Ihnen auf Ihrem aufrichtigen Weg und bei der Suche nach einem Arbeitgeber alles Gute. Lassen Sie sich nicht unterkriegen.

 

Wie werde ich Jakob Augstein?

Ein kleiner Exkurs in sechs Schritten


1. Langweilen Sie ihre Leser nicht mit Fakten. Schreiben Sie einfach: „Und dabei werden die Strompreise immer günstiger.“ Oder: „Im Süden liegt das soziale Korrektiv des Kontinents. Und wenn schon die Deutschen linke Politik verlernt haben, im Süden beherrscht man sie noch.“ Nun sinken die Strompreise ja nicht wirklich, im Gegenteil, sie steigen. Und wenn es linke Politik ist, ein Vierteil bis die Hälfte der jungen Generation vom Arbeitsmarkt auszuschließen und eine privilegierte Staatskaste zu hätscheln, dann müssten Sie den Begriff „links“ eigentlich schnell noch umdefinieren. In Wirklichkeit können Sie den Begriff natürlich nach Belieben gebrauchen, so wie Sie auch souverän festlegen, ob ein Preis gerade fällt oder steigt. Wenn Sie wirklich läuseknackerisch Daten und Fakten zusammenklauben wollten, dann wären Sie ja Journalist.

Im Zweifel berufen Sie sich darauf, dass alles in Politik und Wirtschaft irgendwie miteinander verbunden ist, wenn auch nicht unbedingt räumlich, zeitlich oder kausal. Denken Sie also beim Schreiben immer an die Worte des Fußballers Dettmar Cramer: „Alles hängt mit allem zusammen. Sie können sich am Hintern ein Haar ausreißen, dann tränt das Auge.

2. Unterstellen Sie Ihren Gegnern lieber einen schlechten Charakter, als ihm falsche Ansichten nachzuweisen. Über zwei von Ihnen nicht geschätzten Journalisten schreiben Sie am besten so: „Die alten Ideologie und die wirtschaftlichen Interessen haben lautstarke Verteidiger. So wie die Journalisten Dirk Maxeiner und Michael Miersch. ...Das ist Auftragsjournalismus im Interesse der Wirtschaft, und das Umweltbundesamt hatte Recht, diese Form von Lobby-Journalismus bloßzustellen.

Nun kann jemand ja noch so sehr alten Ideologien nachhängen, Auftragsjournalismus von früh bis spät betreiben und trotzdem zutreffende Dinge schreiben. Unzutreffende Darstellungen müsste man aber mühsam aufspüren und nachweisen, unter Umständen sogar durch Beschäftigung mit Fachliteratur. Deshalb gestaltet es sich einfach effizienter, die Welt säuberlich in gut und schlecht aufzuteilen. Töricht ist dieses Verfahren nur, wenn es von einem amerikanischen Neokonservativen angewendet wird.

Und von der Praxis, Behauptungen („Auftragsjournalismus“) zu belegen, sollten Sie im eigenen Interesse unbedingt die Finger lassen. Denn Belege könnten sich als schwach oder gar falsch herausstellen. Urteile aber bleiben immer Urteile.

3. Sie müssen nicht immer alles aussprechen. Große Texte entstehen gerade durch Andeutungen. Wenn Sie zum Beispiel schreiben: „Gaza ist ein Ort aus der Endzeit des Menschlichen… Ein Lager“, in dem Menschen „zusammengepfercht“ hausen,  dann stellen sich die richtigen Assoziationen schon von selbst her, ohne dass Sie dazu das Wort Auschwitz in den Mund nehmen müssten.  Geben Sie Ihrem Leser auch das Gefühl, dass er sich nicht schämen muss, wenn er Sie richtig versteht: „Früher war es eine Schande, für einen Antisemiten gehalten zu werden. Inzwischen muss man solchen Vorwurf nicht mehr ernst nehmen.

4. Schreiben Sie lauter Hammersätze. Zum Beispiel: „Angetrieben vom billigen Geld der internationalen Finanzmärkte kapert die deutsche Exportindustrie die europäische Integration – und Merkel lässt sie gewähren.“ Es kommt nicht so sehr auf die Frage an, wie eine Exportindustrie etwas Abstraktes wie eine Integration kapern kann, ganz abgesehen von der Frage, was Merkel Ihrer Ansicht nach eigentlich tun sollte, um der Exportindustrie, der europäischen Integration oder beidem in den Arm zu fallen. Es geht eher um das Prinzip eines Gitarrenriffs: „Billiges Geld“, „internationale Finanzmärkte“, „Merkel“. Die Leser -  zumindest Ihre Leser – wollen es so. Rocksongs werden schließlich auch und gerade von Leuten mitgeheadbangt, die den Text nicht verstehen.

5. Ein bisschen Perfidie schadet nie. Stellen Sie beispielsweise über Daniel Cohn-Bendit und seine pädosexuelle Passage in „Der große Basar“ fest: „Es gibt - bislang – auch kein „Opfer“, das sich von Cohn-Bendit irgendwie geschädigt fühlen würde.“ Damit ist klar: sollte sich doch noch jemand melden, der sich an eine sexuell Szene in dem Kinderladen erinnern kann, dann wäre diese Person von vorn herein nur ein Opfer in Anführungszeichen.

Oder: Sie schreiben beispielsweise über den Hersteller des Mohammed-Films von 2012: „Kann man sich vorstellen, dass der kriminelle Kopte ...in einem anderen als im eigenen Auftrag handelte?“ Schon in der Überschrift geben Sie die Richtung vor: „Wem nützt die Gewalt?...Wer profitiert davon? Zumindest versuchen die US-Republikaner und Israelis Kapital aus der Situation zu schlagen.“ Wenn Sie dann die eine oder andere Zuschrift bekommen, in der Sie persönlich angegriffen werden, dann stellen Sie sie stolz an den Anfang Ihrer nächsten Kolumne: „Augstein, du bist und bleibst eine antisemitische Dreckschleuder. PS: Immer schön aufpassen, wenn du über die Straße gehst.“ Mit dem Zitieren dieser hart erarbeiteten anonymen Hassmail machen Sie Ihre Bedeutung klar, die sonst vielleicht nicht jeder erkennen würde.

6. Publizieren Sie nur dort, wo sich interne Kritik an Ihren Texten schon durch die Eigentumsverhältnisse erledigt. Wer – außer Jakob Augstein selbst – kennt nicht die Not eines Schreibers, der fremden Verlagshäusern seine Gedanken anbietet? Da kann der Text zu lang sein, zu hölzern, zu witzig, zu schlecht, dem Ressortleiter passt ihre Gesinnung oder ganz einfach ihre Nase nicht, und schon landet Ihr Werk in dem kleinen zylinderförmigen Sonderarchiv rechts unten auf dem Bildschirm. Von diesem Risiko müssen Sie sich systematisch befreien. Denn Sie haben der Welt etwas mitzuteilen. Und außerdem die nötigen finanziellen Mittel durch eine großzügige Erbschaft. Publizieren Sie auf der Internetseite eines Magazins, das Ihnen durch günstige Umstände mitgehört. Kaufen Sie sich außerdem eine eigene Zeitung, die ohne Ihr Engagement schon längst untergegangen wäre. Mit einem Bekenntnisblatt für eine kleine, aber treue Gemeinde kann man auf die Dauer durchaus ein kleines Vermögen machen, vorausgesetzt, man besitzt am Anfang ein großes. Jedenfalls, beherzigen Sie gerade in Hinblick auf ihre publizistische Tätigkeit den Rat von Paul Watzlawick, dass man in der Wahl seiner Eltern nicht vorsichtig genug sein kann.
Sollten Sie nach Prüfung Ihrer familiären Verhältnisse feststellen, dass Sie doch die falschen Eltern beziehungsweise Väter haben, dann müssten Sie sich Medienpräsenz und die Aura der kompetenzunabhängigen Zuständigkeit leider hart erarbeiten, möglicherweise durch einen Sündenfall, der Ihnen nicht zu früh in Ihrer Karriere unterlaufen sollte, andererseits auch nicht zu spät.  Einzelheiten hierzu entnehmen Sie bitte dem Kurzratgeber: „Wie werde ich Margot Käßmann?“.

 
  1. Alexander Wendt

Spracherkennung

Alltagstest - nicht bestanden

Eben 3 mal probiert und in Google "Fickt Schafe" diktiert. Was macht das doofe Ding, kommt mir mit 'Fick Strasse'. Was soll das denn sein?

Damit ist die Software zum alltaeglichen Gebrauch in meinem sozialem
Umfeld leider (noch) vollkommen unbrauchbar.

Zur Ehrenrettung. "Der Baer kackt in den Wald" geht. Die Hoffung
bleibt also, dass das eines Tages mal geht.


Bioabfall


Michael Wolffsohn - Sisyphos reloaded

Im Münchner Spatenhaus begrüßt man ihn mit Freude und sichtbarem Respekt und rückt ihm den Stuhl zurecht: Hier und heute Abend sitzt Michael Wolffsohn bequem. Normalerweise hält er sich eher zwischen den Stühlen auf, das ist weniger angenehm, erst recht, wenn man eine derart schmale Silhouette hat. Und doch balanciert er dort seit Jahren. Es gibt viele, die ihn dafür bewundern. Es gibt weit mehr, die ihn dafür hassen.
Wer ihn persönlich erlebt, versteht die Abneigung nicht: Der Herr Professor ist kein akademischer Langweiler, sondern ein weltgewandter und feinfühliger Citoyen mit Charme und Humor. Außerdem sieht er verdammt gut aus. Und er gibt sich, ganz wie seine Frau Rita, keineswegs so erwachsen, wie es sich angeblich gehört, wenn man 65 und seit ein paar Monaten emeritiert ist. Der Abend ist heiter. Kaum eine Frage bleibt offen. Nur eine: Wie schafft es so jemand, sich mit beinahe allen anzulegen, die nicht nur in Deutschland eine öffentliche Rolle spielen?
Dass die Rechtsradikalen ihn nicht lieben – geschenkt. Dort mag man in alter Tradition keine Juden, und vor allem keine, die, als Professor an der Bundeswehruniversität in München, deutsche Offiziere mit Zionismus infizieren oder sonstwie verderben könnten. Der rechte Hass lässt sich von medialem Jagdgeschmetter befeuern, kulminiert immer wieder in antisemitischen Morddrohungen und beschert der Familie Wolffsohn in ihrem Münchner Haus seit Jahren Polizeischutz.
Das müsste die Linke auf seine Seite bringen? Ganz im Gegenteil. Einmal deshalb, weil Wolffsohn nunmal kein Linker ist. Als er 1970 zum 1967 unterbrochenen Studium an die Berliner Freie Universität zurückkehrte, erlebte er Mao-Bibel schwenkende Studenten, die den eminenten Politikwissenschaftler Richard Löwenthal, den 1935 vor den Nazis geflohenen Juden, einst Kommunist, später Sozialdemokrat, als Nazi beschimpften. Wolffsohn aber wollte studieren und nicht über Maos Kulturrevolution diskutieren. Irgendwann schloss er sich wie Löwenthal und Fraenkel der „Notgemeinschaft für eine freie Universität“ und dem „Bund Freiheit der Wissenschaft“ an. Dort lernte er Rita Braun-Feldweg kennen, die beiden sind seit 1975 verheiratet. Er dunkel, sie blond, beide schmal und schnell und scharfzüngig. Eine tiefe Beziehung, man sieht und hört das.
Ach, die Linke und Richard Löwenthal: auch das so ein Missverständnis, das man heute kaum noch nachvollziehen kann. Was war an Löwenthal und Fraenkel reaktionär, den jüdischen Linksliberalen, antitotalitär aus Erfahrung mit Nationalsozialismus und Kommunismus zugleich? Und was attraktiv an den studentischen Ideologen, diesen Sektierern der 70er Jahre, die alles niederbrüllten, was nicht ihrer Meinung war? Doch damals war klar: wer zum „Bund Freiheit der Wissenschaft“ hielt, war rechter als rechts. Dabei war doch nur der linke Verstand bei vielen besonders kurz.
Und dann auch noch das: der Streber Wolffsohn hatte gedient, freiwillig, drei Jahre lang. Nicht in der Bundeswehr, immerhin – damals bevorzugten viele Studenten Berlin, weil ein Wohnsitz dort ihnen den Wehrdienst ersparte. Dafür aber in der israelischen Armee, zu einer Zeit, als man dort jeden Mann brauchte: nach dem Sechstagekrieg 1967, als Ägypten den Israelis einen Zermürbungskrieg am Suezkanal lieferte. Doch während Wolffsohn der Sache Israels diente, jubelte einer wie Joschka Fischer im Oktober 1969 auf einem Palästina-Solidaritätskongress in Algier Jassir Arafat zu, der den „Endsieg“ über Israel anstrebte. Das beschreibt in etwa die Spannweite der Gegensätze. Der Antizionismus in der studentischen Linken war, wie wir heute wissen, weit übler als eine lässliche Jugendsünde.

Es liegt nicht am Wein, dass das Bild immer verworrener wird. Wer war, wer ist Michael Wolffsohn in den Augen der Öffentlichkeit? Ein Zionist, glauben einige, andere meinen, als Jude könne er kein richtiger Deutscher sein. Irgendwie. Aber womöglich ist er gar ein Nazi? Irgendwie wohl auch. Hatte ihn nicht Ignatz Bubis 1992 als „Vorzeige-Juden der deutschen Rechtsradikalen“ bezeichnet? Dann durfte einer wie Friedrich Küppersbusch das auch, der 1995 in einer gottlob längst vergessenen WDR-Fernsehsendung namens „ZAK“ das Konterfei Wolffsohns mitten ins Hakenkreuz der Reichskriegsflagge montierte, gegengeblendet Aufnahmen von Neonazis beim Sturm auf das Asylbewerberheim in Rostock. Ich erinnere mich gut an die Sendung, es war zum Fremdschämen.
Doch hatte nicht auch das dieser Wolffsohn – irgendwie - selbst verschuldet? Wer sich als deutsch-jüdischer Patriot bezeichnet, muss mit den Schlimmsten rechnen. Das geht gar nicht. Nicht bei den Deutschen. Aber auch nicht bei den Juden in Deutschland. Und erst recht nicht bei den Israelis. Eigentlich – bei niemandem.
Sitzen Sie gut zwischen den Stühlen, Herr Wolffsohn?

Mit Deutschland, finden die einen, geht Wolffsohn viel zu freundlich um. Den Juden in aller Welt und Israel aber erspart er nichts. Stimmt schon: er hat so gar nichts übrig für die „Amtsjuden“ und „Synagogengänger“, für die Funktionäre des Zentralrats der Juden in Deutschland etwa, die sofort mit Exodus drohen, wenn über die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Beschneidung kleiner Jungen auch nur diskutiert wird. Oder für den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, der sich noch bis kurz vor ihrem Ende bei der DDR beliebt machte. Er mag den „Gemeindemief“ nicht und die jüdische „Folklore“. Er spottet über angemaßte Juden wie Gregor Gysi oder Markus Wolf. Und ein bisschen auch über die Beliebtheit jüdischer Vornamen für die Kinder nichtjüdischer deutscher Eltern.
Ebenso wenig hält er von harschen Marschbefehlen aus Israel, wonach das „entartete“ deutsche Judentum „aufzulösen“ sei und alle Juden nach Israel, in die jüdische „Einheitsfront“, gehörten. Doch solche Töne sind vorbei. In Israel respektiert man ihn: ja, er ist ein Diasporajude. Aber er hat drei Jahre freiwillig in der israelischen Armee gedient, nicht ohne Risiko fürs eigene Leben. Das zählt dort.
Dennoch besteht Wolffsohn darauf: weder (das existentiell gleichwohl so notwendige) Israel noch sonstwer repräsentiere die Juden in der Welt. Auch nicht das, was sich „jüdische Gemeinde“ oder „Zentralrat“ nennt – dass der für alle jüdischen Deutschen zuständig sei, glaubten nur die nichtjüdischen Deutschen, wo noch immer die Meinung grassiert, Juden seien eine verschworene Gemeinschaft, in der alle eisern zusammenhalten. Nebbich. Ebenso wenig sind alle Juden, als „die Opfer“, engelsgleiche Wesen. Das verachtet Wolffsohn: jedwede Sonderbehandlung, auch wenn sie mit besten Absichten geschieht. „Toleranz auch für die dummen Juden!“ Es gibt sie, wie überall. Na und? Na und.
Wolffsohn will Normalität. Aber die kriegt er nicht. Ist er denn überhaupt ein richtiger Jude? Dieser Nestbeschmutzer? Der eine Evangelische geheiratet hat, die er noch nicht einmal zum Konvertieren hat überreden wollen?
Die Gänsekeule kommt. Weder im Spatenhaus noch bei Wolffsohns wird koscher gegessen, warum auch? Die wenigsten Diasporajuden tun das. Und die wenigsten Juden heiraten Juden. Rita und Michael führen eine Mischehe, wie gut zwei Drittel der Juden in Deutschland. Doch das ist Teil eines Problems: dass nämlich die Juden immer weniger werden.
Wenn man Rita und Michael Wolffsohn lachend über ihre Hochzeit sprechen hört, hat man das Gefühl, der Tag habe nur ein Thema gehabt: die inständigen Bitten von Freunden und Verwandten, Rita, die Gojte, möge doch bitte schnell noch zum Judentum konvertieren. Sie tat es nie. Und deshalb sind die drei Kinder der Wolffsohns dem Judentum entzogen – denn Jude ist nur, wer eine jüdische Mutter hat, wobei es nicht auf Blut und Gene ankommt, sondern auf die Religion.
Das ist so ein Moment, an dem Michael Wolffsohn bedrückt wirkt. Es ist doch eine schwindende Gemeinschaft, die Juden der Welt und die in Deutschland. Und er ist ja doch beides: Jude und Deutscher. Obwohl Diasporajuden ohne Religion eigentlich keine sind. Sagt er, dem Stammesdenken nunmal fremd ist. Das ist wohl die Paradoxie seines Lebens.

Wolffsohn hat ein Lebensthema, natürlich, unübersehbar. Nicht jenes, das Henryk Broder hat, der auf Antisemitismus geeichte Spürhund. Eher im Gegenteil. Michael Wolffsohn kämpft für etwas, das es nicht gibt: dafür, dass einer wie er so normal ist wie sich die meisten jüdischen Deutschen im Deutschen Reich bis Hitler fühlten. Doch das jüdische Großbürgertum hat sich diese Normalität womöglich nur eingebildet. Dass Hitler auch die zu Juden erklärte, die sich selbst gar nicht mehr so verstanden, hat Juden auf immer zu Juden gemacht. Sich dagegen zu wehren kommt der Arbeit des Sisyphos gleich.
Doch Wolffsohn rollt den Stein immer wieder hoch. Antisemitismus ist das eine. Die Funktionalisierung des Holocaust aber ist nicht minder unangenehm. Wolffsohns Augenmerk gilt der „Geschichtspolitik“, ein Begriff, den er in die Debatte eingebracht hat. Gemeint ist, dass hinter fast jeder Geste und jedem Gedenken im öffentlichen Raum handfeste Interessen stehen. Auch Willy Brandts Kniefall in Warschau war Geschichtspolitik: die große Geste sollte Israel beruhigen, dem die „neue Ostpolitik“ der sozialliberalen Koalition nicht schmeckte. Der Mehrwert: ab da konnte man in der SPD Israel tagespolitisch kritisieren, ohne geschichtspolitisch als Relativierer dazustehen.
Und so wird aus Vergangenheit eine Krücke für die Gegenwart. Die Deutschen hätscheln jemanden wie Jonah Goldhagen, der ihnen bescheinigt, sozusagen genetisch bedingt „eliminatorische Antisemiten“ zu sein? Der Mehrwert solchen Masochismus’ heißt: man kann sich macht- und außenpolitisch raushalten. Für die Juden in der Diaspora, insbesondere in den USA, ist der Holocaust als Bindemittel an die Stelle der Religion getreten? Praktisch, dann muss man nicht groß darüber nachdenken, was das eigene Jüdischsein noch bedeutet, sobald es nicht mehr religiös definiert ist.
Und Israel? Die Zionisten haben nicht auf Hitler gewartet, um in Palästina zu siedeln. Doch heute ist auch dort der Holocaust zum einigenden Zusammenhang geworden. Und in Deutschland, dem „Land der Täter“, fühlt man sich am Schicksal der Palästinenser gleich noch mit schuld. Weil es ja ohne Hitler kein Israel und damit auch keinen Konflikt gegeben hätte ...
Unsinn. Am Grunde des Konflikts, so sieht es auch Wolffsohn, liegt die verfehlte britische Mandatspolitik in Palästina weit vor Hitler, die wahrlich nicht judenfreundlich war. Auch im Zweiten Weltkrieg sahen weder Engländer noch Amerikaner die Rettung der Juden als Hauptsache. Doch darüber zu diskutieren verbietet – Geschichtspolitik. Kein Wunder also, dass Wolffsohn aneckt, der nur in einer Hinsicht Fanatiker ist: wenn es um die Wahrheit geht.

Wir sind beim Schnaps und fast die letzten im Lokal. Seit Wolffsohn emeritiert ist, kann man ihm erst recht nicht mehr das Maul verbieten, wie es deutsche Kollegen und Politiker gleich zweimal versuchten, als sie seine Amtsenthebung betrieben. Es gibt wissenschaftliche Projekte, er geht schwanger, sagt er, mit einer (welt-)historischen Einordnung der Bundesrepublik Deutschland. Und vielleicht fügt er den bislang 30 Büchern und 132 wissenschaftlichen Aufsätzen auch noch eine Familiengeschichte plus Autobiografie hinzu. Außerdem berät er Politiker und Unternehmer, meistens über den Nahen Osten, die deutsche Außenpolitik, weltpolitische Entwicklungen und natürlich „Geschichtspolitik“.
Gut, dass sich um die „Gartenstadt Atlantic“ vor allem Rita Wolffsohn kümmert. Die Familie hat ihr gesamtes Vermögen in die Rettung eines jüdischen „Vermächtnisses“ gesteckt, nämlich in die vorbildhafte Restaurierung einer Wohnanlage im Berliner Problembezirk „Gesundbrunnen“, deren Herzstück einst die „Lichtburg“ war, jenes Ende der 20er Jahre gegründete Großkino. Das alles gehörte Karl Wolffsohn – bis zur Arisierung. Wolffsohn konnte flüchten, kehrte 1949 zurück und musste zwölf Jahre lang um die Anlage prozessieren. Seinen Sieg erlebte er nicht mehr. Und das Kino hat der Westberliner Senat 1970 abreißen lassen.
Die Geschichte der „Gartenstadt Atlantic“ ist ein Kapitel für sich. Es ist die Geschichte, auch, eines handfesten, uneitlen Mäzenatentums einer ganzen Familie.
Auch das noch: Michael Wolffsohn ein Mäzen, der ein jüdisches Erbe für Deutschland bewahrt hat. Das soll ihm mal einer verzeihen können.

 

Dr. Cora Stephan